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Erdwind

Erdwind

Titel: Erdwind
Autoren: Robert Holdstock
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Erde, im Berg, kam eine Bö auf und machte sich auf die lange Reise ins Flachland.
    Elspeth war mit ihrer Zeichnung bis zur letzten Spirale des Symbols gediehen. Mit dem Blut ihrer Brust malte sie ihre Körperwärme gegen die Kälte, zeichnete ihre Entlassung aus einer vergangenen Wirklichkeit in eine neue Wirklichkeit.
    Vom Zentrum aus beschrieb ihr Finger enge Kurven, ausfahrend, weiter ausfahrend, spiralig …

 
Coda

 
Wiedergeburt
 
    Die ersten warmen Winde der neuen Jahreszeit trugen den Geruch des Flachlandes in die Berge hinauf, zu der hohen Felsnadel, wo eine dunkelhäutige Frau stand und nachdenklich ins Weite starrte. Hinter ihr zerschnitt ein in Häute gekleideter Jäger einen kleinen Weißflügler in handliche Stücke, die er mit dem schnell schmelzenden Schnee zu Eiswürfeln formte, damit das Fleisch ein paar Tage frisch blieb. Er grunzte bei der Arbeit, sah ein paarmal zu der Frau hinüber und schimpfte schließlich: „Was stehst du da und starrst? Komm lieber und hilf mir!“
    „Ich sehe mir die Erdmauer an“, antwortete sie, „und ich denke mir, wieviel leichter es sich dort lebt als hier in dieser Hölle.“
    Der Mann nickte und wandte sich wieder dem toten Tier zu. Die beiden glitzernden Diamanten, die er, in einer Lederschnur verknotet, um den Hals trug, tanzten und reflektierten farbige Lichter in der Sonne.
    Die Frau wandte sich von der Felsnadel ab und stampfte ein Weilchen mit ihren fellumwickelten Füßen, um sich zu erwärmen. Sie starrte auf den arbeitenden Mann, auf seinen muskulösen Körper, horchte auf die Geräusche, die er von sich gab – genauso grunzte und stöhnte er, wenn sie sich liebten, wenn sie zusammen töteten oder wenn sie rannten. Ein Mann von wenig Worten, doch ein erfreulich starker Mann.
    „Sie töten uns, wenn wir uns dort wieder sehen lassen“, sagte er schließlich, als hätte er lange über eine Antwort nachdenken müssen.
    Die Frau schwieg. Sie blickte auf ihre linke Hand; die Stummel zweier Finger waren ein häßliches Souvenir an die Feindseligkeit derer, die in der Erdfestung wohnten.
    Ein Geräusch erregte ihre Aufmerksamkeit, eine verstohlene Bewegung zwischen den nächstliegenden Felsbrocken.
    Auch der Mann hörte es und richtete sich langsam hoch.
    „Schon wieder das Mädchen“, sagte er. „Diesmal erwische ich sie. Lange genug treibt sie sich bei uns herum.“
    „Bleib, wo du bist“, befahl die Frau. „Du verscheuchst sie bloß, und Menschen sind etwas, das wir brauchen.“
    Der Mann wandte sich um und sah sie an, wobei er sich die schneebeklebten Hände am Bauch abwischte. Er war narbig und zerstochen, und die Spuren von Kampf und Niederlage waren deutlich unter dem dichten schwarzen Haar zu sehen, das seine Haut bedeckte. Er trug nur eine Hose aus Weißflüglerleder, doch die Kälte schien ihm nichts auszumachen. Mit seinen engzusammenstehenden Augen, um die das lange schwarze Haar hing, das er mit getrockneten Sehnen zu mehreren Zöpfen zusammengebunden hatte, sah er wild und böse aus, doch die Frau kümmerte sich nicht darum. Während des bitteren Winters, bei ihrem Zug ins Flachland und den Scharmützeln mit den Aerani in der Erdburg hatte sie gelernt, mit seinen wilden Wutausbrüchen fertig zu werden und ihnen ihren eigenen Zorn entgegenzusetzen.
    „Die da brauchen wir nicht“, knurrte der Mann. Jetzt rührte sich in den Steinen weiter oben am Hang wieder etwas; der Mann hörte es, fuhr herum und starrte hinauf, wobei er seine Augen mit der Hand vor der glänzendgelben Sonne schützte.
    „Wir brauchen Krieger“, widersprach die Frau und band sich die Schnur ihrer weiten Lederjacke fester. Sie wickelte sich einen Gürtel aus dickem Pelz um die Mitte und hängte zwei schmale Steinmesser in seine Schlaufen. Ohne die Felsbrocken aus dem Auge zu lassen, nahm sie ihre Schleuder vom Boden auf, lud sie mit einem scharfzackigen Kiesel und hängte sich die Schleuder ebenfalls an den Gürtel.
    Ein plötzlicher Windstoß wirbelte spiralige Schneewolken über den Fels und trug den Schweißgeruch des Mädchens mit sich, bestätigte den Verdacht, daß es ganz in der Nähe war.
    Die Frau benetzte ihre Hand mit Schnee und strich ihr länger gewordenes schwarzes Haar zurück, so daß sie die Sicht ganz frei hatte.
    „Krieger?“ lachte der Mann verächtlich. „Die ist doch keine Kriegerin.“
    „Das wissen wir nicht.“
    „Sie ist eine von denen. Eine Gelbhaarige“, sagte er grinsend. Das Wort hatte in ihrem privaten Slang, den sie sich
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