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Engel Der Nacht

Engel Der Nacht

Titel: Engel Der Nacht
Autoren: Becca Fitzpatrick
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einmal erleben. Noch ein geheimes Lächeln, ein geteiltes Lachen. Noch ein elektrisierender Kuss. Ihn gefunden zu haben war wie jemanden gefunden zu haben, von dem ich nicht einmal gewusst hatte, dass ich ihn gesucht hatte. Er war zu spät in mein Leben getreten, und jetzt verließ er es zu früh. Ich erinnerte mich, wie er gesagt hatte, er würde alles für mich aufgeben. Das hatte er bereits getan. Er hatte einen menschlichen Körper für sich aufgegeben, damit ich leben konnte.
    Ich schwankte aus Versehen und duckte mich instinktiv, um das Gleichgewicht wiederzufinden.
    Jules’ Gelächter klang wie ein kaltes Flüstern. »Mir ist es eigentlich egal, ob ich dich nun erschieße oder ob du dich selbst zu Tode stürzt.«
    »Es gibt da einen Unterschied«, sagte ich mit leiser, aber zuversichtlicher Stimme. »Du und ich, wir haben dasselbe Blut.« Ich hob meine Hand sehr vorsichtig und zeigte ihm mein Muttermal. »Ich bin ein Nachkomme von dir. Wenn
ich mich opfere, dann wird Patch ein Mensch und du stirbst. So steht es im Buch Enoch geschrieben.«
    Jules’ Augen schienen völlig lichtlos. Sie waren auf mich fixiert, sogen jedes Wort auf, das ich sprach. Ich konnte ihm ansehen, wie er meine Worte abwog. Dann sah ich, wie er rot wurde und wusste, er glaubte mir. »Du …«, sprudelte er.
    Hektisch rutschte er auf mich zu und griff zugleich in seinen Hosenbund, um die Waffe zu ziehen. Tränen brannten in meinen Augen. Ohne Zeit für Hintergedanken stürzte ich mich vom Dachbalken hinunter.

DREISSIG
    E ine Tür öffnete und schloss sich. Ich erwartete, sich nähernde Schritte zu hören, aber das einzige Geräusch kam vom Ticken einer Uhr: ein rhythmisches, gleichförmiges Schlagen in der Stille.
    Das Geräusch begann zu schwinden, nach und nach. Ich fragte mich, ob ich hören würde, wie es völlig verschwand. Plötzlich hatte ich Angst vor diesem Augenblick, weil ich nicht wusste, was danach kam.
    Ein sehr viel kräftigeres Geräusch löste die Uhr ab. Es war ein beruhigender, himmlischer Klang, ein melodischer Tanz in der Luft. Flügel, dachte ich. Sie kommen, um mich zu holen.
    Ich hielt den Atem an und wartete, wartete, wartete. Und dann fing die Uhr an, rückwärts zu schlagen. Anstatt langsamer zu werden, wurde das Schlagen bestimmter. Eine spiralförmige Flüssigkeit entstand in mir, wand sich tiefer und tiefer. Ich spürte, wie ich in den Strom hineingezogen wurde. Dann glitt ich durch mich hindurch an einen dunklen, warmen Ort.
     
    Ich blinzelte, schlug die Augen auf und erblickte eine wohlbekannte Eichentäfelung an der schrägen Zimmerdecke über mir. Mein Zimmer. Eine große Ruhe kam über mich, doch dann erinnerte ich mich, wo ich gewesen war. In der Sporthalle mit Jules.
    Ein Schauer rann über meine Haut.
    »Patch?«, fragte ich. Meine Stimme war heiser, weil ich sie
lange nicht benutzt hatte. Ich versuchte aufzustehen und gab einen unterdrückten Schrei von mir. Irgendetwas stimmte nicht mit meinem Körper. Jeder Muskel, jeder Knochen, jede Zelle war wund. Ich fühlte mich wie ein einziger, enormer Bluterguss.
    Da war eine Bewegung neben der Tür. Patch lehnte am Türrahmen. Sein Mund war fest zusammengepresst, und es fehlte der übliche spöttische Zug. In seinen Augen war eine Tiefe, wie ich sie nie zuvor gesehen hatte, und sein Blick schien geschärft, beschützend.
    »Das war ein guter Kampf da in der Sporthalle«, sagte er. »Aber ich glaube, du könntest noch ein bisschen Nachhilfe im Boxen gebrauchen.«
    In einer Welle kam alles zu mir zurück, und Tränen stiegen tief aus meinem Inneren empor. »Was ist geschehen? Wo ist Jules? Wie bin ich hierhergekommen?« Meine Stimme brach vor Angst. »Ich habe mich vom Dachbalken gestürzt.«
    »Da hast du eine Menge Mut bewiesen«, sagte Patch leise. Er trat ganz in mein Schlafzimmer und schloss die Tür hinter sich. Ich wusste, das war seine Art zu versuchen, alles Böse draußen zu halten. Er richtete eine Scheidewand auf zwischen mir und allem, was geschehen war.
    Langsam kam er herüber und setzte sich neben mich aufs Bett. »Woran erinnerst du dich sonst noch?«
    Ich versuchte, meine Erinnerungsfragmente zusammenzufügen, von hinten nach vorn. Ich erinnerte mich an die schlagenden Flügel, die ich gehört hatte, kurz nachdem ich vom Dachbalken gestürzt war. Ich wusste ohne Zweifel, dass ich tot war. Ich wusste, dass ein Engel gekommen war, um meine Seele fortzutragen.
    »Ich bin tot, nicht wahr?«, sagte ich leise, schwindelig vor Angst. »Bin ich
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