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E.M. Remarque

E.M. Remarque

Titel: E.M. Remarque
Autoren: Der Himmel kennt keine Guenstlinge
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ver­ste­hen, er wür­de glau­ben, daß sie ihn
an­rie­fe, weil Cler­fa­yt tot sei. Er wür­de ihr nie glau­ben kön­nen, daß sie
Cler­fa­yt hat­te ver­las­sen wol­len. Sie woll­te es ihm auch nie­mals sa­gen.
    Sie saß still, bis
die Däm­me­rung grau ins Zim­mer kroch. Die Fens­ter wa­ren of­fen. Sie hör­te das
Ra­scheln der Pal­men drau­ßen wie das Ge­schwätz scha­den­fro­her Nach­barn. Der
Por­tier hat­te ihr ge­sagt, daß die Schwes­ter Cler­fa­yts mit­tags ab­ge­fah­ren sei;
es war auch für sie Zeit, ab­zu­fah­ren.
    Sie stand auf, aber
sie zö­ger­te. Sie konn­te nicht ge­hen, be­vor sie nicht wuß­te, ob Bo­ris noch
leb­te. Es war nicht nö­tig, ihn selbst an­zu­ru­fen. Sie konn­te das Haus an­ru­fen
und nach ihm ver­lan­gen, un­ter ir­gend­ei­nem Na­men; wenn das Mäd­chen dann ging, um
sie an­zu­mel­den, wuß­te sie, daß er noch leb­te, und konn­te ein­hän­gen, be­vor er
kam.
    Sie rief die Num­mer
an. Es dau­er­te lan­ge, bis die Te­le­fo­nis­tin zu­rück­rief. Es mel­de­te sich nie­mand.
Sie ver­lang­te die Num­mer noch ein­mal, drin­gend, mit ei­ner Vor­an­mel­dung und
war­te­te.
    Sie hör­te drau­ßen
Schrit­te auf den Kies­we­gen des Gar­tens. Das er­in­ner­te sie an den Gar­ten
Cler­fa­yts. Ei­ne Wel­le trost­lo­ser Zärt­lich­keit über­flu­te­te sie. Er hat­te ihr das
Haus ver­macht, oh­ne daß sie es wuß­te. Sie woll­te es nicht ha­ben. Es wür­de
leer­ste­hen und lang­sam wei­ter ver­wit­tern mit sei­nen Stuckor­na­men­ten – wenn
nicht Cler­fa­yts Schwes­ter es kon­fis­zier­te, ge­wapp­net mit der Dop­pel­mo­ral
ein­sei­ti­ger Ge­rech­tig­keit.
    Das Te­le­fon
schrill­te. Lil­li­an hör­te die auf­ge­reg­ten fran­zö­si­schen Stim­men der
Te­le­fo­nis­tin­nen. Sie ver­gaß al­les, was sie sich vor­ge­nom­men hat­te. »Bo­ris!«
rief sie. »Bist du da?«
    »Wer ist da?«
frag­te ei­ne Frau­en­stim­me.
    Lil­li­an zö­ger­te
ei­ne Se­kun­de, dann nann­te sie ih­ren Na­men. In zwei Stun­den wür­de sie die
Ri­vie­ra ver­las­sen ha­ben, und nie­mand wür­de wis­sen wo­hin; es wä­re lä­cher­lich,
nicht noch ein­mal mit Bo­ris zu spre­chen.
    »Wer ist da?«
wie­der­hol­te die Stim­me.
    Sie nann­te noch
ein­mal ih­ren Na­men.
    »Wer?«
    »Lil­li­an
Dun­ker­que.«
    »Herr Wol­kow ist
nicht hier«, ant­wor­te­te die Stim­me durch das Rau­schen und Knacken in der
Lei­tung.
    »Wer ist dort? Frau
Escher?«
    »Nein, Frau Bliss.
Frau Escher ist nicht mehr da. Herr Wol­kow ist auch nicht mehr hier. Ich
be­daue­re. ...«
    »War­ten Sie!« rief
Lil­li­an. »Wo ist er?«
    Der Lärm im Te­le­fon
schwoll an. »– ab­ge­reist«, hör­te Lil­li­an.
    »Wo ist er?« rief
sie.
    »Herr Wol­kow ist ab­ge­reist.«
    »Ab­ge­reist? Wo­hin?«
    »Das kann ich nicht
sa­gen.«
    Lil­li­an ver­hielt
den Atem. »Ist ihm et­was pas­siert?« frag­te sie dann.
    »Das weiß ich
nicht, Ma­da­me. Er ist ab­ge­reist. Ich kann Ih­nen nichts an­de­res sa­gen. Ich
be­daue­re ...«
    Die Ver­bin­dung
wur­de un­ter­bro­chen. Die auf­ge­reg­ten fran­zö­si­schen Te­le­fo­nis­tin­nen zwit­scher­ten
da­zwi­schen. Lil­li­an leg­te den Hö­rer auf. Ab­ge­reist – sie wuß­te, was das in
der Co­despra­che oben be­deu­te­te. Es war die Aus­kunft, wenn je­mand ge­stor­ben war.
Es konn­te auch nichts an­de­res be­deu­ten – wo­hin soll­te er schon ge­reist
sein? Selbst sei­ne al­te Haus­häl­te­rin war nicht mehr da.
    Sie saß ei­ne
Zeit­lang ganz still. End­lich stand sie auf und ging hin­un­ter. Sie be­zahl­te ih­re
Rech­nung und steck­te ihr Bil­lett in die Ta­sche. »Schi­cken Sie mei­ne Sa­chen zum
Bahn­hof«, sag­te sie.
    »Jetzt schon?«
frag­te der Por­tier ver­wun­dert. »Sie ha­ben noch fast zwei Stun­den. Es ist zu
früh.«
    »Jetzt«, sag­te sie.
»Es ist nicht zu früh.«

22
    S ie
saß
auf ei­ner Bank vor dem klei­nen Bahn­hof. Die ers­ten Lich­ter brann­ten im frü­hen
Abend und brach­ten die kah­le Trost­lo­sig­keit des Ge­bäu­des noch mehr zur Gel­tung.
Braun­ge­brann­te Tou­ris­ten scho­ben sich lär­mend an ihr vor­bei zu ei­nem Zug nach
Mar­seil­le.
    Ein Ame­ri­ka­ner
setz­te sich ne­ben sie und be­gann einen Mo­no­log über die Tat­sa­che, daß man
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