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Ellin

Ellin

Titel: Ellin
Autoren: Christine Millman
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Lord Wolfhards aufbrausendes Wesen besser als alle anderen und verachtete ihn dafür, trotzdem wurde ihr erst durch Affras Worte bewusst, dass es das Gesinde ebenso empfand wie sie. Unwillkürlich fragte sie sich, wie es geschehen konnte, dass ein einzelner Mann die Menschen in seiner Umgebung in Angst und Schrecken versetzte und warum sie nicht einfach alle flohen. Der Gedanke, dass sie die Erste war, die es wagte, ihm zu trotzen, erfüllte sie mit grimmigem Stolz und so öffnete sie beherzt die Tür ins Freie. Obschon sie jeden Augenblick damit rechnete, aufgehalten zu werden, trat sie in den Hof hinaus und schlug, ohne zu zögern, den Weg zum Tor ein. Affra folgte ihr. Im Gegensatz zu Ellin sah sie sich ständig um. Doch während des Langen Regens hielt sich nur selten jemand draußen auf, jeder blieb wenn irgend möglich innerhalb der Festungsmauern. Reibungslos gelangten sie zum Tor.
    Wie Affra vorhergesagt hatte, war kein einziger Soldat zu sehen, nur ein einsamer Wachmann hielt, unter einem schmalen Holzdach stehend, Wache. Die Kapuze seines Mantels tief in das Gesicht gezogen, um ihn vor den dicken Tropfen zu schützen, die durch die schmalen Schlitze des Holzdachs drangen. Ein dunkelblonder Bart quoll unter dem Schatten der Kapuze hervor. Normalerweise waren das Tor und die Mauern der Felsenfestung gut bewacht, doch während des Langen Regens war diese Vorsichtsmaßnahme nicht vonnöten. Niemandem gelang es, die steilen Klippen zu erklimmen, die zu schäumenden Wasserfällen geworden waren, oder die abschüssigen Wege, die mehreren Fuß tiefen, tosenden Abflüssen glichen. Die Menschen auf der Felsenfestung waren zwischen den Wassermassen gefangen, aber sicher.
    Missmutig blickte der Wachmann Ellin und Affra entgegen. »Was wollt ihr?«
    »Die junge Dienerin muss für eine Weile hinaus«, erwiderte Affra.
    »Ellin?« Er betrachtete sie überrascht. »Lord Wolfhards Leibdienerin?«
    Ellin, ihr Antlitz im Schatten ihrer Kapuze verborgen, hob den Kopf und zeigte ihm ihr Gesicht.
    »Wo willst du denn hin? Da draußen findest du nichts, außer den sicheren Tod.«
    »Ich benötige dringend ein seltenes Kraut, welches am Fuße der Festungsmauern wächst«, erklärte sie.
    Der Wachmann runzelte die Stirn. »Wieso?«
    »Der Küchenjunge hat das Fieber und nur dieses Gewächs kann helfen.«
    Der Wachmann wich einen Schritt zurück. Wenn der Küchenjunge das Fieber hatte, war es besser, Abstand zu halten, denn die Krankheit war hochansteckend und endete nicht selten tödlich. »Was ist das für ein Kraut? Warum kümmert sich der Heiler nicht darum?«
    »Der Name ist Lundgras. Es wächst ausschließlich auf kargem Fels. Und Heiler Mathýs muss sich um die Kranken kümmern und bat mich darum, das Kraut für ihn zu pflücken.« Dicke Tropfen perlten von ihrer Kapuze. Sie fröstelte. Noch hatte sie die Festung nicht verlassen, schon begann sie zu frieren und dieser einfältige Wachmann hatte nichts Besseres zu tun, als sie im strömenden Regen auszufragen.
    »Von dem Kraut hab’ ich noch nie gehört«, brummte er.
    Affra stemmte die Arme in die Hüften und baute sich drohend vor ihm auf. »Bist du etwa ein Heiler, Bursche? Verschwende nicht unsere Zeit und öffne das Tor, bevor es dunkel wird und das arme Ding wegen deiner dummen Fragen in die Tiefe stürzt!«
    Einen Augenblick lang sah es so aus, als wollte er widersprechen, doch dann zuckte er mit den Schultern. »Wie ihr wollt.« Seelenruhig begann er, das Tor zu entriegeln.
    Nervös blickte Ellin über den Hof zur Festung hin. Trotz des Regenschleiers gewahrte sie hier und da ein Huschen hinter den Fenstern, doch niemand kam in den Hof gestürzt, um sie aufzuhalten. Nachdem das Tor geöffnet war, wandte sie sich Affra zu. Ein Lebewohl war angesichts des neugierigen Mannes nicht möglich, was vielleicht sogar besser war. Es erleichterte ihr den schmerzvollen Abschied, wenn sie einfach so tat, als würde sie noch vor Einbruch der Nacht zurückkehren.
    »Pass auf dich auf«, sagte Affra mit fester Stimme. »Und achte stets auf deinen Weg!«
    Ellin schluckte schwer. »Das werde ich, ganz sicher.«
    Der Wachmann verdrehte die Augen und stöhnte. »Törichte Weiber.«
    Ellin nahm seine Worte zum Anlass, um sich abzuwenden und über die Schwelle zu treten. Bevor sich das Tor hinter ihr schloss, warf sie einen letzten Blick zurück. Mathýs stand vor dem Dienstboteneingang, die Arme vor der Brust verschränkt. Klein und hilflos sah der alte Heiler aus, wie er da stand,
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