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Eis

Eis

Titel: Eis
Autoren: Erich Kosch
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Rudel Wisente durch die Stadt, von denen man geglaubt hatte, sie seien längst ausgestorben und hätten sich in Europa nur noch in einigen zoologischen Gärten erhalten. Schon Tags darauf wurde am vereisten Ufer der Save ein Robbenpaar gesichtet, und am gleichen Tag, kurz vor Abend, trottete würdevoll und langsam in Richtung Slavija auch ein altes, zahnloses Mammut durch die Straßen, ganz abgewetzt vom langjährigen Liegen unter dem arktischen Eis. Hinterher erwies sich, daß es sich um entlaufene Tiere aus zoologischen Gärten gehandelt hatte, und die Welt beruhigte sich für ein paar Tage, aber dann verschwanden bei Nacht wieder ein paar Menschen, die unvorsichtig und zur Unzeit das Haus verlassen hatten. Eine Frau schwor, sie habe gesehen, wie eine weiße, vollkommen menschenähnliche Erscheinung ihren Mann um die Hüfte gefaßt, hochgehoben, auf die Arme genommen und davongetragen habe. Und am andern Tag stieß die Witwe im Hof auf gewaltige Fußstapfen, die tatsächlich Ähnlichkeit mit menschlichen hatte. Die geheimnisvolle weiße Erscheinung wurde danach auch in anderen Stadtteilen gesehen. Ihre Spuren wurden später in verschiedenen verlassenen städtischen Räumlichkeiten entdeckt. Aus gewesenen Kino- und Theatersälen, Werkstätten und Lagerräumen hatte sie vollkommen unbrauchbare und unnütze Gegenstände mitgenommen: Telefone, Radios, Fernsehgeräte, Ventilatoren, Staubsauger – vermutlich aus Neugierde, um zu sehen, was das sein und wozu das dienen könnte –, und nach der Befriedigung ihrer Wißbegier all die Sächelchen stehngelassen und auf Höfen und Straßen weggeschmissen, wo die verwunderten Bürger sie am andern Morgen fanden.
    „Yeti!“ riefen die Leute. „Der Schneemensch!“ Endlich, nach so vielen Meinungsverschiedenheiten, war seine Existenz erwiesen. Der Eiszeitmensch, der sich aus der verrußten, stinkenden, verseuchten, brodelnden Atmosphäre der Zivilisation in die Ruhe, Frische und Sauberkeit der Bergesgipfel im Altai, in Pamir und im Himalaja zurückgezogen und dort gelebt hatte, die Menschen meidend und nur von Zeit zu Zeit Bergsteiger und buddhistische Mönche erschreckend, hatte jetzt, ermuntert von Schnee und Eis der neuen Eiszeit, seine alten Schlupfwinkel verlassen und war in die Städte herabgestiegen. Was die Menschen, an Frost und Eis nicht gewöhnt, heute stört, das ist ihm angenehm, und es war kein Wunder, wenn er wieder die Herrschaft über die Welt übernähme und die alte menschliche Rasse ablöste, die es sich in ihrer Entartung abgewöhnt hat, für ihren Fortbestand zu kämpfen, und es nicht versteht, sich zurechtzufinden und der neuen Zeit anzupassen.
    Alles das gab es, und alles das ist wirklich vorgekommen. Und von einer Zeit an scharrte etwas nachts an den Wohnungstüren. Man hörte, wie es mit leichten und flinken Hundeschritten ums Haus tanzte, schnaufte, keifte und schnüffelte. Gelbe Augenpaare färbten die Nacht; das verängstigte, durchgefrorene Menschengeschlecht zitterte in seinen elenden Löchern. Und genau zu dieser Zeit, als nach langer Finsternis der nackte und bleiche Mond sich über den verwüsteten, verlassenen Häusern zeigte, war von irgendwo unten, von der zugefrorenen Save und Donau her, wahrscheinlich aus dem schneebedeckten Tiefland kommend, groß und fahl der Wolf aufgetaucht und die steilen Straßen in die Stadt heraufgekommen. Er drang bis mitten auf die leeren Terazije vor und bestieg hier einen Schneehaufen. Still stand er da, erhob seinen großen, mächtigen Kopf und klappte die Kiefern auseinander. Er zeigte seine großen, weißen Eckzähne und streckte sich. Er hob die Schnauze zum Mond, ließ irgendein schmerzliches Winseln ertönen und stieß gleich darauf mit weit aufgerissenem Rachen aus voller Brust einen mit Blut und Haß getränkten, wütenden, sieghaften Eroberungsschrei aus. Auf die Vorderläufe gestützt, wartete er so ab und meldete sich noch dreimal, dann antworteten ihm bellend und heulend die Wölfe von allen Seiten. Aus allen Straßen und Zugängen, die hier zusammenfließen, begannen die Rudel zu quellen, als machten sie sich zum letzten, entscheidenden Sturm auf. Da – schon waren die ersten auf den Terazije angekommen, und mit hechelnden langen roten Zungen rannten sie auf den Führer zu. Graue Leiber überfluteten den ganzen Platz, und auf die Schreie des Führers antworteten die anderen mit ihrem Geheul. Eine Kundgebung wurde gemacht, der Sieger hielt Gericht über die belagerte, unterjochte Stadt, und die
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