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Eine kurze Geschichte der Menschheit (German Edition)

Eine kurze Geschichte der Menschheit (German Edition)

Titel: Eine kurze Geschichte der Menschheit (German Edition)
Autoren: Yuval Noah Harari
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davon aus, dass zufällige Genmutationen die Kabel im Gehirn des Sapiens neu verschaltet hatten und dass sie deshalb lernen konnten, in noch nie dagewesener Weise zu denken und mit einer völlig neuen Form von Sprache zu kommunizieren. Diese Veränderung könnte man als »Baum der Erkenntnis«-Mutation bezeichnen. Aber warum passierte sie nur in den Genen des Homo sapiens und nicht im Erbgut des Neandertalers? Soweit wir das heute beurteilen können, war das reiner Zufall. Aber es ist viel interessanter, sich die Folgen dieser Mutation anzusehen als nach ihren Ursachen zu suchen. Was war denn so besonders an der neuen Sprache des Homo sapiens , dass sie uns die Eroberung der Welt ermöglichte?
    Es war schließlich nicht die erste Sprache. Jedes Tier hat seine eigene Sprache. Selbst Insekten wie Bienen und Ameisen verwenden ausgeklügelte Kommunikationssysteme, um sich über Futterquellen zu verständigen. Es war noch nicht einmal die erste Lautsprache. Viele Tiere kommunizieren mithilfe von Lauten, darunter alle Affenarten. Grünmeerkatzen verständigen sich beispielsweise mit unterschiedlichen Schreien. Einen dieser Schreie übersetzen Affenforscher als »Vorsicht Adler!« und einen anderen, der etwas anders klingt, mit »Vorsicht Löwe!«. Als die Forscher einer Gruppe von Grünmeerkatzen eine Tonbandaufnahme des ersten Schreis vorspielten, hielten die Tiere inne und spähten ängstlich in den Himmel. Und als dieselben Affen eine Aufnahme der Löwenwarnung hörte, kletterten sie eilig den nächsten Baum hinauf. Sapiens können deutlich mehr unterschiedliche Laute hervorbringen als Grünmeerkatzen, doch Wale und Elefanten haben ein ähnlich beeindruckendes Repertoire wie wir. Papageien können sämtliche Laute nachahmen, die wir von uns geben, und obendrein eine schier endlose Vielfalt anderer Geräusche wie klingelnde Telefone, zuschlagende Türen oder heulende Sirenen imitieren. Was ist also das Besondere an unserer Sprache?
    Eine mögliche Antwort ist die extreme Flexibilität. Mit einer begrenzten Zahl von Lauten und Zeichen können wir eine unendliche Zahl von Sätzen mit ihrer jeweils eigenen Bedeutung produzieren. Damit können wir gewaltige Mengen an Information über unsere Umwelt aufnehmen, speichern und weitergeben. Eine Grünmeerkatze kann ihren Artgenossen zurufen: »Achtung Löwe!« Aber ein Mensch kann seinen Stammesgenossen berichten, dass er heute Morgen in der Nähe der Flussbiegung einen Löwen gesehen hat, der eine Büffelherde beobachtete. Er kann den Ort genau beschreiben und erklären, wie man dorthin kommt. Mit dieser Information kann die Gruppe gemeinsam überlegen, ob sie sich zum Fluss aufmacht, um den Löwen zu vertreiben und die Büffel zu jagen.
    Eine zweite Theorie geht ebenfalls davon aus, dass sich unsere Sprache entwickelte, um Informationen über die Umwelt auszutauschen. Doch nach dieser Theorie ging es den Menschen nicht darum, sich über Löwen und Büffel zu unterhalten, sondern über ihre Artgenossen. Mit anderen Worten dient unsere Sprache vor allem der Verbreitung von Klatsch und Tratsch. Der Homo sapiens ist ein Herdentier, und die Kooperation in der Gruppe ist entscheidend für das Überleben und die Fortpflanzung. Dazu reicht es nicht aus, zu wissen, wo sich Löwen und Büffel aufhalten. Es ist viel wichtiger zu wissen, wer in der Gruppe wen nicht leiden kann, wer mit wem schläft, wer ehrlich ist und wer andere beklaut.
    Es ist ganz erstaunlich, wie viel Information man aufnehmen und im Kopf haben muss, um das sich ständig verändernde Beziehungsgeflecht zwischen einigen Dutzend Personen im Blick zu behalten. (In einer Gruppe von 50 Menschen gibt es allein 1225 Zweierbeziehungen und eine schier unüberschaubare Vielzahl von Dreiecks-, Vierecks- und anderen Über-Eck-Beziehungen.) Sämtliche Affenarten haben großes Interesse an sozialen Informationen, aber keine kann so gut klatschen wie wir. Neandertaler und die ersten Sapiens waren vermutlich noch nicht besonders geübt darin, hinter vorgehaltener Hand über andere zu reden – eine Fähigkeit, die in letzter Zeit etwas in Misskredit geraten ist, obwohl sie eine entscheidende Voraussetzung für die Zusammenarbeit in größeren Gruppen ist. Mit der neuen Sprachkompetenz, die der moderne Homo sapiens vor rund 70000 Jahren erwarb, konnte er dagegen stundenlang über andere tratschen. Mit Hilfe von verlässlichen Informationen über zuverlässige Mitmenschen konnten die Sapiens ihre Gruppen stark erweitern, enger
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