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Eine Idee des Doctor Ox

Eine Idee des Doctor Ox

Titel: Eine Idee des Doctor Ox
Autoren: ekz.bibliotheksservice GmbH
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wir der Wahrheit treu bleiben, so müssen wir berichten, daß die beiden Notabeln sich hin-
     und herpufften wie die Gassenjungen, und daß schließlich Rath Niklausse, der, wie es schien, alle Rücksicht gegen seinen Vorgesetzten,
     den ersten Beamten der Stadt, vergessen hatte, Herrn van Tricasse mit Gewalt bei Seite stieß und das dunkle Schneckengewinde
     hinaufkletterte. Man mußte zuerst auf allen Vieren kriechen, und die beiden Herren warfen sich wahrend dieser gemeinsamen
     Promenade im Finstern so unzweideutige Bezeichnungen an den Kopf, daß man wirklich befürchten mußte, es würde oben, auf der
     dreihundertsiebenundfünfzig Fuß hohen Plattform des Thurms, zu einer entsetzlichen Scene kommen.
    Aber die beiden Freunde liefen sich bald außer Athem, und als sie auf der achtzigsten Stufe etwa angekommen waren, stiegen
     sie nur noch schwer und langsam empor und schnappten laut nach Luft.
    Dann aber – war es eine Folge ihrer Athemnoth oder hatte sich ihr Zorn gelegt? – hörte man nichts mehr von Schelten und Lärmen.
     Sowohl Herr van Tricasse wie Rath Niklausse verstummten allmälig, und es schien, als vermindere sich ihre Exaltation, je höher
     sie sich über die Stadt erhoben. Es war, als ob sich eine sanft beschwichtigende Ruhe über ihren Geist legte; die Aufregung
     ihres Gehirns schwand nach und nach, wie eine Kaffeekanne aufhört zu sieden, wenn man sie von der heißen Platte entfernt.
     Wie kam das?
    Auf diese Frage können wir keine Antwort geben, so viel aber steht fest: als die beiden Gegner an einem Treppenabsatz, zweihundertsechsundsechzig
     Fuß über dem Niveau der Stadt, ankamen, setzten sie sich nieder und schauten sich ruhig, ja wirklich ruhig und ohne allen
     Zorn an.
    »Ach, sind die Treppen steil! rief klagend der Bürgermeister und fuhr mit dem Taschentuch über das vor Anstrengung rothe,
     glänzende Gesicht.
    – Gewiß, sehr steil! bestätigte der Rath. Sie wissen doch, daß wir vierzehn Fuß mehr zu steigen haben, als die Höhe des St.
     Michael-Thurms in Hamburg beträgt?
    – Nun freilich«, erwiderte der Bürgermeister in einem Ton der Eitelkeit, der bei der ersten Autorität Quiquendones in diesem
     Fall wohl verzeihlich war.
    Nach wenigen Augenblicken der Ruhe nahmen die beiden Notabeln ihre Kletterpartie wieder auf, nichtohne ab und zu einen neugierigen Blick auf die Schießscharten in der Mauer des Thurmes zu werfen. Der Bürgermeister hatte
     sich an die Spitze der Karawane gestellt, und der Rath machte auch nicht die geringste Bemerkung darüber. Ja, als man ungefähr
     an der dreihundertundvierten Stufe angelangt und der Bürgermeister vollständig kreuzlahm war, unterstützte ihn Niklausse gefällig
     im Rücken, und der Bürgermeister ließ es ruhig geschehen. Als er oben auf der Plattform ankam, sagte er mit dem alten huldvollen
     Ton:
    »Ich danke Ihnen, Niklausse, ich werde Ihnen diesen Liebesdienst nicht vergessen.« Noch am Fuße des Thurms zwei wilde Thiere,
     bereit sich zu zerreißen, kamen sie als die besten Freunde oben auf der Plattform an.
    Das Wetter war prächtig; man befand sich im Monat Mai, und die Sonne hatte alle Dünste aufgesogen. Welch klare, reine Luft!
     Das Auge konnte bis auf weite Entfernung hinaus die kleinsten Gegenstände erkennen. Dort tauchten die weißen Mauern von Virgamen,
     seine rothen Dächer und die an einzelnen Stellen durchbrochen gebauten Glockenthürmchen auf; so friedlich lag die Stadt da,
     und war doch schon jetzt allen Schrecken der Kriegsfackel und der Plünderung geweiht!
    Bürgermeister und Rath hatten sich auf einer kleinen steinernen Bank neben einander gesetzt, wie zwei brave Menschen, deren
     Seelen in inniger Sympathie verschmelzen. Keuchend und außer Athem sahen sie auf das Panorama zu ihren Füßen herab; dann,
     nach einigen Augenblicken des Schweigens, rief der Bürgermeister plötzlich aus:
    »Wie schön ist das!
    – Ja, es ist herrlich! stimmte der Rath bei; glauben Sie nicht auch, mein würdiger van Tricasse, daß die Menschheit viel mehr
     dazu bestimmt ist, in solchen Höhen zu wohnen, als ewig auf der Rinde unseres Sphäroids umher zu kriechen?
    – Ich denke wie Sie, ehrenwerther Niklausse; ich denke ganz wie Sie, stimmte der Bürgermeister zu. Man erfaßt hier oben besser
     den Gedanken, der sich von dem Irdischen löst; man erfaßt ihn mit allen Sinnen, möchte ich sagen. In solchen Höhen müßten
     die Philosophen gebildet werden, müßten die Weisen hoch über den Misèren dieser Welt
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