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Eine Frage der Schuld - Mit der Kurzen Autobiographie der Graefin S A Tolstaja

Titel: Eine Frage der Schuld - Mit der Kurzen Autobiographie der Graefin S A Tolstaja
Autoren: Sofja Tolstaja Ursula Keller Alfred Frank Ursula Keller
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dorthin, in die Unendlichkeit... Ich weiß das und fühle es! Daß das niemand begreifen will!»

    «Wie kann man denn auf der Erde ein unirdisches Leben führen?»wollte Natascha wissen.«Gestern noch hast du davon gesprochen, daß man unbedingt heiraten müsse. Nun, in der Ehe, mit Kindern und den Sorgen wirst du mit einem dir gereichten Stück Brot nicht überleben und nirgendwo hinfliegen.»
    Anna wurde nachdenklich.«Ja, wenn man die Ehe so wie ihr alle betrachtet, dann ist es besser, überhaupt nicht zu heiraten. Vor allem braucht man Liebe, und sie muß über allem Irdischen stehen, vollkommen sein... Ich kann das nicht erklären, ich fühle es nur.»
    «Genug jetzt, Anna. Komm, gehen wir hinunter. Dmitri Iwanowitsch ist auch schon da. Anna, liebst du ihn?»
    «Ich weiß es nicht. Ich unterhalte mich gern mit ihm, aber wenn ich ihm abends die Hand gebe und er sie drückt, so auf ganz besondere Weise, und seine Hand schweißig ist, wird er mir auf einmal dermaßen zuwider! Doch er kennt sich aus in allem, worauf es ankommt, glaube ich, er ist gebildet und klug, er hat seine eigenen Ideale.»
    Die Schwestern gingen nach unten. Auf der Terrasse war niemand außer Dmitri Iwanowitsch und Mischas Lehrer. Sie sprachen über die Verhältnisse
an der Universität und tranken Tee. Anna fragte Dmitri Iwanowitsch, ob er ihr etwas Hübsches zu lesen mitgebracht habe.
    «Was verstehen Sie unter hübsch?»wollte er wissen und brachte aus seiner Jackentasche Gedichte Tjuttschews 2 zum Vorschein.«Das habe ich zufällig bei mir», sagte er.
    Anna schlug das Bändchen auf und blätterte darin.«Ich kenne dieses Buch. Und wie ich diese Gedichte liebe! ‹Tränen, o Tränen, von Menschen vergossen›», las sie.«Das kann ich auswendig. ‹Ströme, noch nie zum Versiegen gebracht...› 3 Ja, das sind die schmerzlichsten Tränen, viele dieser Tränen werde ich in meinem Leben vergießen müssen.»
    «Ich habe den Eindruck, Sie persönlich werden keine vergießen müssen. Sie sind immer so heiter, so fröhlich. Nur zu träumerisch veranlagt, Anna Alexandrowna. So kommt man nicht durchs Leben.»
    «Wie sonst, Ihrer Meinung nach?»
    «Man muß vor allem gesellschaftliche und irdische Interessen zu seinem Lebensinhalt machen, Anteil nehmen an den Belangen der Menschheit, anstatt sich immerzu mit seiner inneren Schwäche abzuquälen.»
    «Und was ist dazu nötig?»

    «Auf jeden Fall, daß man aufhört, in den Wolken zu schweben, und tätig wird. Versuchen Sie, vernunftvoller zu leben, Anna Alexandrowna, ohne Vorurteile und - vor allem - ohne weinerliche religiöse Heuchelei.»
    «Versuchen kann man es», sagte Anna traurig.«Aber was ist das für ein Ausdruck - ‹weinerliche religiöse Heuchelei›? Gehören Sie denn keiner Religion an? Kann man überhaupt ohne sie leben? Sagen Sie, glauben Sie an Gott?»
    Dmitri Iwanowitsch lächelte spöttisch und herablassend.«Was gefällt Ihnen denn so an dem Wort ‹Gott›?»
    «Nicht das Wort brauche ich, sondern die göttliche Idee. Und diese Idee werde ich Ihnen nicht opfern, hören Sie?»versetzte Anna plötzlich hitzig.«Wenn es keinen Gott gibt, dann gibt es auch mich nicht, nichts gibt es, gar nichts... Kein Leben!»Annas Gesicht glühte, ihre Augen funkelten, ihre Stimme bebte, den Tränen nahe, wandte sie sich ab und verstummte.
    Dmitri Iwanowitsch war im Begriff, wieder ironisch zu lächeln, doch als er sie ansah, wurde ihm unwohl in seiner Haut, und er schlug die Augen nieder.
    Die Nacht brach an. Der Mond war längst aufgegangen und beschien unweit des Hauses
eine kleine Lichtung am See. Die Umrisse des dunklen Grüns der sie einfassenden Bäume zeichneten sich vor dem Hintergrund des hellen Himmels noch dunkler ab. Dieses Licht aus der Dunkelheit lockte so sehr, daß Anna, als alle bereits schlafen gegangen waren, den Blick auf die Lichtung gerichtet, noch lange auf der Terrasse stand. Das Chaos der Gedanken, die sie in letzter Zeit aufgrund der Lektüre philosophischer Bücher und der Gespräche mit Dmitri Iwanowitsch beschäftigten, schien sich langsam aufzulösen.
    Ein Rascheln im Garten ließ sie zusammenzucken. Aus dem Dunkel schritt Dmitri Iwanowitsch auf sie zu. Er kam vom Nebengebäude her, in dem Mischas Lehrer wohnte, um sich durch den Garten auf den Heimweg zu machen, doch als er Anna bemerkte, stieg er zur Terrasse herauf und trat zu ihr. Ärgerlich darüber, daß er sie in ihrer Stimmung störte, hielt sie, statt ihn anzusehen, ihren Blick schweigend auf die
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