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Ein Garten mit Elbblick (German Edition)

Ein Garten mit Elbblick (German Edition)

Titel: Ein Garten mit Elbblick (German Edition)
Autoren: Petra Oelker
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Fell oder Kleid erheblich zu beschädigen.
    So trat das kleine Fräulein Mommsen an einem frischen Tag Anfang Mai zum ersten Mal ohne Bewachung, ohne Schutz hinaus in die fremde Welt. Sie zögerte nur kurz und lauschte zurück in den Garten, doch niemand rief nach ihr oder befahl sofortige Umkehr. Es war ganz still, nur ihr Herz klopfte laut, als sie durch den schmalen, von weit über ihren Kopf aufragenden dunklen Hecken begrenzten Gang zur Elbe hinunterrannte, zum Strand. Dorthin, wo die anderen lebten, wo Mädchen auch am Sonntag weder Taftschleifen noch Lackschuhe trugen, wo keine Gouvernanten und Klavierlehrer ihren verdienstvollen Tätigkeiten nachgingen und niemand Damastservietten benutzte, wo die Jungen unverschämt waren und die Messer locker saßen, alle Männer ständig fluchten und tranken, und die Frauen – was mit den Frauen war, hatte Henrietta nicht verstanden, jedenfalls waren sie offenbar keine Damen. All das hatte sie erfahren, als sie in ihrem Lieblingsversteck unter der Hintertreppe der Köchin und der vorletzten Gouvernante gelauscht hatte, die sich darin einig gewesen waren, das Leben unten am Ufersaum sei nur für Proleten, während Menschen von Feingefühl und Anstand nach oben, nämlich nach den vornehmen Villen und Parks auf dem Hochufer entlang der Elbchaussee strebten.
    Der Gang hinter dem Loch im Zaun erschien zwischen den gepflegten dichten Hecken wie ein grüner Tunnel, er machte einen scharfen Knick, dann noch einen – und da war die Elbe, da war der Uferweg, und da waren auch – Proletenkinder?
    Nach rechts verwehrte ein soliderer Zaun den Durchgang, dort gehörte auch der Strand zu den großen Anwesen am Geesthang. Nach links, nicht weit bis Teufelsbrück, wo im Sommer Spaziergänger flanierten und ganz Mutige im Fluss badeten, wo nun bald ein Hafen für die dahinterliegenden Dörfer gebaut werden sollte, saß ein Junge vorne auf einem in den Fluss ragenden Steg. Obwohl es erst Mai war, trug er weder Schuhe noch Strümpfe, dafür sah seine Jacke aus, als sei sie aus mehreren Schichten Stoff genäht. Sein Haar war sehr kurz, dick und blond, fast wie Stroh. Er saß ganz ruhig, in der Rechten eine Angelrute, aus der Linken stieg dünn feiner Rauch auf. Henrietta war beeindruckt, bis er die Hand an die Lippen hob und sie feststellte, dass es kein Zauberkunststück war, sondern nur ein Zigarettenstummel. Gerade schnippte er den Rest in den Fluss, als sie sich heftig in den Rücken gestoßen fühlte, vorwärts stolperte und mit beiden Füßen im Wasser landete.
    Ein Mädchen lachte, es klang überhaupt nicht freundlich. Hetty sprang zurück aufs Trockene, aber das Wasser hatte ihre feinen schwarzen Stiefeletten schon durchnässt. Sie drehte sich um, ängstlich und wütend zugleich, und blickte in ein frisches sommersprossiges Gesicht, in dunkle Augen unter rotblondem Haar. Das Mädchen war einige Jahre älter als sie, fast einen Kopf größer, fast schon kein Kind mehr.
    Sie grinste breit. «Hast dich wohl verlaufen, was?» Sie gab Hetty wieder einen unsanften Schubs. «Pass mal gut auf, sonst schmelzen deine Zuckerfüße, und aus’m Wasser kommt ein Riesenaal, der frisst dich mit Haut und Haar und deiner blöden Schleife.»
    Eine blitzschnelle Bewegung, und Henriettas Schleife war mitsamt einem dünnen Büschel Haare in der Schürzentasche des Mädchens verschwunden.
    Ihr erschreckter Schrei hatte den jungen Angler herumfahren lassen; bevor das Mädchen zum nächsten Schubs gegen den Eindringling aus der feinen Welt ausholen konnte, war er da und fasste es grob am Arm.
    «Was soll das, Martha?», sagte er. «Sie hat uns nichts getan. Willste wieder Ärger haben? Was hast du in die Tasche gesteckt? Gib’s ihr zurück.»
    Martha starrte ihn nur wütend an. Er war ein paar Fingerbreit kleiner als sie, trotzdem hatten seine Worte Gewicht.
    «’ne Haarschleife», piepste ein zweites Mädchen, das vorsichtig abwartend bei einem struppigen Weidenbusch gestanden hatte und nun näher hüpfte. «So ’ne schöne Schleife.» Sie mochte zwei oder drei Jahre jünger als Henrietta sein, zumindest sah sie so aus; sie war dünn, ihre Blässe wurde durch die ungesunden roten Flecken auf den Wangen nur betont, ihr Kleid aus drei Sorten aufgerauten Baumwollstoffes hing von ihren schmalen Schultern wie von einem Kleiderbügel, die dünnen Beine steckten in faltigen, an Knien und Knöcheln gestopften braunen Wollstrümpfen, die Füße in Holzgaloschen.
    Da geschah etwas Seltsames. Henrietta, gerade in
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