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Ein deutscher Wandersommer

Ein deutscher Wandersommer

Titel: Ein deutscher Wandersommer
Autoren: Andreas Kieling
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scheu und hat einen so extrem ausgeprägten Gehör- und Sehsinn, dass sie die Flucht ergreift, lange bevor man nur den Hauch einer Chance hat, sie wahrzunehmen. In der Eifel, einem der wenigen Gebiete, in denen es Wildkatzen gibt – der Nationalpark Eifel ist sogar ein Wildkatzenschutzgebiet –, habe ich in all den Jahren, die ich nun schon dort lebe, kaum je eine gesehen. Um mir in meinen ersten Jahren als Förster und Jäger dort einen zumindest annähernden Überblick über den Bestand der Wildkatze in meinem Revier zu verschaffen, konnte ich nur eines tun: Nachts mit dem Geländewagen durch die Bergtäler fahren, mit einem starken Suchscheinwerfer die Hänge und Felskanten ableuchten und hoffen, dass ich die Reflexion von Katzenaugen sah. Eine zugegebenermaßen recht unzuverlässige und fehleranfällige Methode. Fotofallen, eine andere Möglichkeit, standen mir damals nicht zur Verfügung.
    Wenn also ein Wanderer oder Spaziergänger glaubt, auf einer Wiese oder einer Waldlichtung eine Wildkatze zu sehen, handelt es sich mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit um eine streunende oder verwilderte Hauskatze, die nur eine ähnliche Färbung hat: eine kontrastarme graubraune Tigerung und drei bis vier dunkle Kringel am schwarz und stumpf endenden Schwanz. Ein äußerlich erkennbares Unterscheidungsmerkmal ist – zumindest in der Theorie – der bei Wildkatzen buschigere Schwanz. In der Theorie deshalb, da bei kampfbereiten Hauskatzen durch das Aufstellen der Schwanzhaare der Schwanz optisch leicht drei- bis vierfach so dick wirken kann, wie er eigentlich ist. Die beiden anderen körperlichenUnterschiede – ein kürzerer Darm und ein größeres Hirnvolumen – lassen sich nur am toten Tier feststellen. Die Hauskatze stammt im Übrigen nicht von der Europäischen Wildkatze ab, sondern von der Falb- beziehungsweise Afrikanischen Wildkatze.
    Verantwortlich für das seltene Vorkommen von Wildkatzen – es besteht ganzjährige Schonzeit in Deutschland – ist wie in so vielen Fällen der Mensch. Noch 1931 hieß es in einem Jagdbuch: »Es wird keinen Jäger geben, der … ruhen und rasten würde, bevor es ihm gelungen ist, sein Revier und sein Wild von diesem unheilvollen Gaste befreit zu haben.« Wildkatzen wurden bis in die 1950er-Jahre als vermeintliche Schädlinge geschossen oder gerieten in für Pelztiere aufgestellte Schlagfallen. Ein anderer Grund ist der Verlust von Lebensraum. Die Wildkatze ist, wie etwa der Luchs, der Schwarzstorch oder der Baummarder, ein klassischer Kulturflüchter, der sich in dem Versuch, den Menschen zu meiden, in entlegene Regionen zurückzieht; im Unterschied zum Kulturfolger, der aus verschiedenen Gründen – viel Nahrung, kein Feinddruck, generalistische Lebensweise – die Nachbarschaft zum Menschen attraktiv findet und sogar sucht.
    Menschenleere oder zumindest menschenarme Gebiete sind in Deutschland allerdings höchst selten. Hinzu kommt ein weiterer entscheidender Faktor: In den 60er- und 70er-Jahren, als man nicht gerade zimperlich mit Herbiziden, Fungiziden, Insektiziden und Pestiziden umging, potenzierten sich diese Gifte in den Tieren, die am Ende einer Nahrungskette stehen. Da wurde zum Beispiel Gift in den Wald gespritzt, um einer Borkenkäferplage Herr zu werden. Daraufhin fielen die Borkenkäfer und außerdem alle Maikäfer, Hirschkäfer oder Junikäfer von den Bäumen, Falter verendeten. Insektenfressende Vögel wie etwaSpechte, die sich über dieses Festmahl hermachten, wurden irgendwann von kleinen Beutegreifern gefressen, und diese wiederum landeten in den Mägen von Fuchs, Dachs, Wildkatze, Marder, Falke, Habicht oder Uhu. Und von Glied zu Glied dieser Nahrungskette sammelte sich mehr Gift im Fettgewebe, in den Nieren, in der Leber an. Einigen Tieren, wie beispielsweise dem Fuchs und dem Dachs, konnten diese Gifte verhältnismäßig wenig anhaben, anderen hingegen setzten sie massiv zu. Sie legten Eier ohne Schalen oder sterile Eier, brachten verkrüppelte oder schwache Junge zur Welt. Dies in Verbindung mit der Verschmutzung der Gewässer brachte viele Tiere an den Rand des Aussterbens. Damals spielte sich in Deutschland ab, was heute in vielen Entwicklungs- und Schwellenländern wie etwa Indonesien oder China zu beobachten ist: In ihrem Bestreben nach Wohlstand betrieben die Menschen einen gnadenlosen und unüberlegten Umgang mit und einen brachialen Raubbau an der Natur. Das klassische Beispiel ist die Abholzung von Urwäldern, um Platz für Plantagen oder
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