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Die Welt von Gestern

Die Welt von Gestern

Titel: Die Welt von Gestern
Autoren: Stefan Zweig
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aufgenommen. Und so drängte einer neben dem andern, ehemalige Universitätsprofessoren, Bankdirektoren, Kaufleute, Gutsbesitzer, Musiker, jeder bereit, die jämmerlichen Trümmer seiner Existenz wohin immer über Erde und Meer zu schleppen, was immer zu tun, was immer zu dulden, nur fort von Europa, nur fort, nur fort! Es war eine gespenstische Schar. Aber das Erschütterndste war für mich der Gedanke,
daß diese fünfzig gequälten Menschen doch nur einen versprengten, einen ganz winzigen Vortrab darstellten der ungeheuren Armee der fünf, der acht, der vielleicht zehn Millionen Juden, die hinter ihnen schon im Aufbruch waren und drängten, all dieser ausgeraubten, im Kriege dann noch zerstampften Millionen, die warteten auf die Sendungen von den Wohltätigkeitsinstituten, auf die Genehmigungen der Behörden und das Reisegeld, eine gigantische Masse, die, mörderisch aufgescheucht und panisch fliehend vor dem hitlerischen Waldbrand, an allen Grenzen Europas die Bahnhöfe belagerte und die Gefängnisse füllte, ein ganz ausgetriebenes Volk, dem man es versagte, Volk zu sein, und ein Volk doch, das seit zweitausend Jahren nach nichts so sehr verlangte, als nicht mehr wandern zu müssen und Erde, stille, friedliche Erde unter dem rastenden Fuß zu fühlen.
    Aber das Tragischste in dieser jüdischen Tragödie des zwanzigsten Jahrhunderts war, daß, die sie erlitten, keinen Sinn mehr in ihr finden konnten und keine Schuld. All die Ausgetriebenen der mittelalterlichen Zeiten, ihre Urväter und Ahnen, sie hatten zumindest gewußt, wofür sie litten: für ihren Glauben, für ihr Gesetz. Sie besaßen noch als Talisman der Seele, was diese von heute längst verloren, das unverbrüchliche Vertrauen in ihren Gott. Sie lebten und litten in dem stolzen Wahn, als auserlesenes Volk vom Schöpfer der Welt und der Menschen bestimmt zu sein für besonderes Schicksal und besondere Sendung, und das verheißende Wort der Bibel war ihnen Gebot und Gesetz. Wenn man sie auf den Brandstoß warf, preßten sie die ihnen heilige Schrift an die Brust und spürten durch diese innere Feurigkeit nicht so glühend die mörderischen Flammen. Wenn man sie über die Länder jagte, blieb ihnen noch eine letzte Heimat, ihre Heimat in Gott, aus der keine irdische Macht, kein Kaiser, kein König, keine Inquisi
tion sie vertreiben konnte. Solange die Religion sie zusammenschloß, waren sie noch eine Gemeinschaft und darum eine Kraft; wenn man sie ausstieß und verjagte, so büßten sie für die Schuld, sich bewußt selbst abgesondert zu haben durch ihre Religion, durch ihre Gebräuche von den anderen Völkern der Erde. Die Juden des zwanzigsten Jahrhunderts aber waren längst keine Gemeinschaft mehr. Sie hatten keinen gemeinsamen Glauben, sie empfanden ihr Judesein eher als Last denn als Stolz und waren sich keiner Sendung bewußt. Abseits lebten sie von den Geboten ihrer einstmals heiligen Bücher, und sie wollten die alte, die gemeinsame Sprache nicht mehr. Sich einzuleben, sich einzugliedern in die Völker um sie, sich aufzulösen ins Allgemeine, war ihr immer ungeduldigeres Streben, um nur Frieden zu haben vor aller Verfolgung, Rast auf der ewigen Flucht. So verstanden die einen die andern nicht mehr, eingeschmolzen wie sie waren in die andern Völker, Franzosen, Deutsche, Engländer, Russen längst mehr als Juden. Jetzt erst, da man sie alle zusammenwarf und wie Schmutz auf den Straßen zusammenkehrte, die Bankdirektoren aus ihren Berliner Palais und die Synagogendiener aus den orthodoxen Gemeinden, die Pariser Philosophieprofessoren und die rumänischen Droschkenkutscher, die Leichenwäscher und Nobelpreisträger, die Konzertsängerinnen und die Klageweiber der Begräbnisse, die Schriftsteller und die Branntweinbrenner, die Besitzenden und die Besitzlosen, die Großen und die Kleinen, die Frommen und die Aufgeklärten, die Wucherer und die Weisen, die Zionisten und die Assimilierten, die Aschkenasim und die Sephardim, die Gerechten und die Ungerechten, und hinter ihnen noch die verstörte Schar derer, die längst dem Fluche entflüchtet zu sein glauben, die Getauften und die Gemischten – jetzt erst zwang man den Juden zum erstenmal seit Hunderten Jahren wieder eine Gemeinsamkeit auf, die sie längst nicht
mehr empfunden, die seit Ägypten immer wiederkehrende Gemeinsamkeit der Austreibung. Aber warum dies Schicksal ihnen und immer wieder ihnen allein? Was war der Grund, was der Sinn, was das Ziel dieser sinnlosen Verfolgung? Man trieb sie aus den
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