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Die verborgene Seite des Mondes

Die verborgene Seite des Mondes

Titel: Die verborgene Seite des Mondes
Autoren: Antje Babendererde
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Haut aufgerissen. Als er die knapp sechs Zentimeter lange, an den Rändern ausgefranste Wunde betrachtete, wäre Simon beinahe in Ohnmacht gefallen. Er klammerte sich am Waschbecken fest, bis er sich wieder in der Ge walt hatte. Es sah schlimmer aus, als es tatsächlich war, und hatte auch längst aufgehört zu bluten. Aber der Schmerz, den er bisher kaum wahrgenommen hatte, nahm zu.
    Ihm blieb keine Zeit, die Wunde zu versorgen. Wenn er noch län ger wegblieb, würde Julia sich fragen, warum er nicht wiederkam. Er nahm eines der Papiertücher aus dem Spender und drückte es auf die Wunde. Dann schob er sein T-Shirt wieder in die Hose und knöpfte das Hemd zu. Glücklicherweise trug er sein rot-schwarz ka riertes Hemd, da fielen die Blutflecken nicht auf. Wenn Julia erst sah, was passiert war, würde sie ihm die Hölle heißmachen. Er zog an der Spülung.
    Von nun an fuhr Simon. Julia saß neben Tommy auf dem Rücksitz und versuchte ihren Cousin zu beruhigen. Simon spürte, dass sie mit ihren Nerven am Ende war, und hätte ihr das gerne abgenom men. Aber jetzt, wo sie auf einer öffentlichen Straße unterwegs wa ren, musste er fahren, denn nur er besaß einen Führerschein.
    Tommy war vollkommen durcheinander und in seiner bewegungsreichen Unruhe kaum noch zu bändigen. Er stank nach Pisse und sein Gesicht war feucht von Sabber. Julia gab sich alle Mühe. Sie streichelte ihn und redete auf ihn ein, aber es half alles nichts.
    Da begann Simon zu singen. Es war eines der Lieder auf Shoshoni, die Ada Tommy immer vorsang. Und sein Gesang wirkte wie eine Zauberformel. Tommy beruhigte sich sichtlich. Nach einer Weile saß er ganz brav neben Julia und spielte mit seinen Händen.
    Sie waren erst ein paar Meilen gefahren, als die Straße auf einmal übersät war von Grillen. Es knackte schauerlich, wenn die Räder des Jeeps über ihre Körper rollten. Der graue Asphalt der Straße war bald nur noch ein rot glänzender Streifen, so weit das Auge reichte.
    »Was ist das denn?«, fragte Julia erschrocken.
    »Mormon Crickets. Ich habe es dir doch gesagt: Sie werden zur Plage. Und es wird jedes Jahr schlimmer.«
    Der Spuk hörte erst auf, als sie den Highway erreichten. Simon sang für Tommy, die beiden Stunden bis Elko. Es war ihm ganz recht, denn dann musste er nicht mit Julia reden. Sie hatte Fragen und er keine Antworten. Seine Wunde schmerzte höllisch und mit seinem Gesang versetzte er sich in eine Art Trance, die ihn die Fahrt durchhalten ließ.
    Er hielt auf dem großen Parkplatz vor dem Supermarkt und wand te sich zu Julia um. »Du musst uns ein paar Sachen besorgen, okay?«
    Sie nickte.
    »Gläschen für Tommy, ein Paket Windeln, Streichhölzer«, zählte Si mon auf. »Kauf ein paar Lebensmittel, du wirst schon wissen, was.«
    Julia nickte wieder.
    »Hast du Geld?«
    »Ja, hab ich.«
    Sie wollte aussteigen, da sagte er: »Julia . . . Ich brauch noch et was.«
    Fragend sah sie ihn an.
    »Bring aus der Apothekenabteilung Verbandszeug und Jod mit.«
    Simon sah, wie Julias Augen immer größer wurden.
    »Bist du verletzt?« Panik ließ ihre Stimme rau werden. »Hat Jason dich getroffen? Warum hast du nichts gesagt?«
    »Keine Angst, es ist nicht schlimm.«
    »Wo?«, fragte sie wütend. » Wo hat er dich getroffen? Verdammt, Simon!«
    »Nicht hier, okay?« Er sah sich um, ob sie auch keiner gehört hatte. »Es ist nur ein Streifschuss, mach dir keine Sorgen.«
    »Du musst in ein Krankenhaus.«
    »Ich habe keine Krankenversicherung.«
    »Machst du Witze?«
    »Nein«, erwiderte er schlicht.
    »Die müssen dir doch helfen, wenn du verletzt bist«, empörte sie sich.
    »Klar«, sagte er. »Aber ich habe nicht das Geld, um diese Hilfe hinter her zu bezahlen. Und außerdem muss eine Schusswunde der Polizei gemeldet werden. Bitte, Julia.« Simon streckte die Hand aus und legte sie an ihre Wange. »Geh jetzt rein, okay? Kauf uns was zu essen und vergiss das Verbandszeug und das Jod nicht. Es wird bald dunkel und wir haben noch ein ganzes Stück zu fahren, bis wir da sind.«
    Wie benommen lief Julia über den Parkplatz und durch die endlosen Regalreihen des Supermarktes. Sie konnte keinen klaren Gedanken fassen, deshalb brauchte sie ewig, bis sie alles gefunden hatte, was Simon ihr aufgetragen hatte.
    Erst jetzt wurde ihr klar, wie gefährlich die Aktion gewesen war, die sie hinter sich hatten. Sie hätten alle drei sterben können. Jason hatte tatsächlich auf Simon geschossen und versucht, ihn zu treffen. Er hatte ihn getroffen. Die
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