Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen

Die Vampire

Titel: Die Vampire
Autoren: Kim Newman
Vom Netzwerk:
viel, dessen war sich Geneviève bewusst. Ob dritten, zehnten oder zwanzigsten Verwandtschaftsgrades, Vlad Tepes war ihrer aller Fangvater.
    »Wer?«, fragte sie.
    »Eine Neugeborene namens Schön, Lulu. Gewöhnliche Prostituierte, wie die anderen auch.«
    »Das wäre dann die … vierte?«
    »Darüber besteht noch keine Gewissheit. Die Sensationspresse hat jede unaufgeklärte Bluttat ausgegraben, die in den vergangenen dreißig Jahren im East End verübt wurde, und sie dem Whitechapel-Mörder zur Last gelegt.«
    »In wie vielen Fällen ist sich die Polizei denn sicher?«
    Lestrade schnaubte. »Bis die gerichtliche Untersuchung abgeschlossen ist, sind wir uns nicht einmal bei der Schön sicher, obwohl ich glatt meine Pension auf sie verwetten würde. Ich komme
geradewegs aus dem Leichenschauhaus. Die Handschrift ist unverkennbar. Wie bei Annie Chapman in der letzten und Polly Nichols in der Woche davor. In zwei anderen Fällen sind die Meinungen geteilt. Emma Smith und Martha Tabram.«
    »Was meinen Sie?«
    Lestrade knabberte an seiner Unterlippe. »Nur die drei. Die drei wenigstens, von denen wir Kenntnis haben. Die Smith wurde von Gesindel aus dem Jago überfallen, ausgeraubt und mit einem Pflock gespießt. Geschändet noch dazu. Typisch für eine verrohte Diebesbande, unser Mann geht ganz anders zu Werke. Und die Tabram war warmblütig. Silver Knife ist ausschließlich an uns interessiert. An Vampiren.«
    Geneviève verstand.
    »Dieser Mann steckt voller Hass«, fuhr Lestrade fort, »voller Hass und Leidenschaft. Die Morde können nur in völliger Raserei begangen worden sein, und doch haftet ihnen ein gewisser Kaltsinn an. Er tötet auf offener Straße, in finsterster Dunkelheit. Er metzelt nicht einfach, er seziert. Dabei sind Vampire mitnichten leichte Beute. Unser Mann ist kein Verrückter. Er hat ein Anliegen.«
    Lestrade fühlte sich von den Verbrechen persönlich getroffen. Der Whitechapel-Mörder hinterließ tiefe Wunden. Die Neugeborenen waren hin- und hergerissen wegen eines Irrtums, krümmten und wanden sich vor dem Kruzifix wegen einer missverstandenen Legende.
    »Hat sich die Nachricht schon verbreitet?«
    »Wie ein Lauffeuer«, erwiderte der Detective. »Alle Abendausgaben haben etwas darüber gebracht. Inzwischen wird es in ganz London herum sein. Unter den Warmblütern gibt es viele, die uns nicht sehr wohlgesinnt sind, Mademoiselle. Ebenjene triumphieren jetzt natürlich. Wenn die Neugeborenen hervorkommen, könnte eine Panik ausbrechen. Ich habe angeregt, Truppen einzusetzen,
aber Warren ist misstrauisch. Und ich muss sagen, nach der Sache im vergangenen Jahr …«
    Sie konnte sich noch gut daran erinnern. Da es nach der königlichen Hochzeit in wachsendem Maße zu öffentlichen Tumulten gekommen war, hatte Sir Charles Warren, der Commissioner der Metropolitan Police, vorsorglich ein Verbot politischer Versammlungen auf dem Trafalgar Square erlassen. Dem zum Trotz hatte sich eines schönen Novembernachmittags eine Anzahl warmblütiger Rebellen zusammengefunden, um wider die Krone und die neue Regierung zu eifern. Unterstützt von dem radikalen Parlamentsabgeordneten Robert Cunningham-Grahame sowie Annie Besant von der Nationalen Freidenker-Gesellschaft stritten William Morris und H. M. Hyndman vom Sozial-Demokratischen Bund für die Proklamation einer Republik. Es entbrannte eine hitzige, ja gewaltsame Debatte. Geneviève verfolgte sie aus sicherem Abstand von der Treppe der Nationalgalerie aus. Sie war nicht der einzige Vampir, der mit dem Gedanken an eine Republik liebäugelte. Man brauchte kein Warmblüter zu sein, um Vlad Tepes für ein Monstrum zu halten. Eleanor Marx, selbst Neugeborene und neben Dr. Edward Aveling Verfasserin des Buches Zur Vampirfrage, verlangte in einer zündenden Rede die Abdankung Königin Viktorias und die Ausweisung des Prinzgemahls.
    »… kann ich ihm das nicht verdenken. Dennoch ist Abteilung H für einen Aufruhr nicht gerüstet. Der Yard hat mich geschickt, um den Gaunern dieser Gegend kräftig heimzuleuchten, dabei sind wir bereits vollauf damit beschäftigt, den Mörder zu suchen, ohne uns auch noch mit einer Sicheln und Spieße schwingenden Rotte herumplagen zu müssen.«
    Geneviève war neugierig, wie Sir Charles sich wohl entschließen würde. Im November hatte Warren - einst erst Soldat, dann Polizist, nun erst Vampir und dann Soldat - die Armee zu Hilfe gerufen. Und noch ehe ein verwirrter obrigkeitlicher Beamter
die Aufruhrakte vollständig verlesen
Vom Netzwerk:

Weitere Kostenlose Bücher