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Die Totengräberin - Roman

Die Totengräberin - Roman

Titel: Die Totengräberin - Roman
Autoren: Sabine Thiesler
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Schluss setzte er eine Brille mit Fensterglas und zartgoldenem Rand auf, die ihm einen intellektuellen, distinguierten Touch gab. Kein Problem, sie danach auf der Autobahn aus dem Fenster zu werfen.
    Er wirkte wie ein Professor Anfang sechzig, dem man ohne weiteres Respekt zollte und Vertrauen schenkte. Perfekt. Er war zufrieden.
    Das Zimmer hatte er bereits am Abend zuvor bezahlt. Er packte seine Sachen und verließ zwanzig Minuten später das
Hotel vollkommen unbemerkt. Die Rezeption war in diesem kleinen Hotel nur selten besetzt.
    Ideal für ihn, der ungesehen verschwinden wollte.
    Es war jetzt kurz nach elf. Noch zu früh. In Gedanken ging er noch einmal die Liste durch, ob irgendetwas fehlte. Aber ihm fiel nichts ein. Er hatte an alles gedacht.
    Also blieb ihm nur noch ein Waldspaziergang, um zwei weitere Stunden totzuschlagen.
    Um dreizehn Uhr fünfundzwanzig hielt er vor der Klinik und parkte am Nebeneingang auf einem für Ärzte reservierten Parkplatz. Weiße Hosen, weißes Hemd und weißen Kittel hatte er bereits im Auto angezogen, Stethoskop und obligatorischer Kugelschreiber steckten in der Brusttasche.
    So betrat er das Krankenhaus. Dem Pförtner nickte er kurz zu, und dieser grüßte automatisch zurück.
     
    Um dreizehn Uhr achtundzwanzig bekam Schwester Tillie auf der Station einen Anruf von einem hausinternen Apparat.
    »Hier Dr. Werner, Kardiologie«, sagte eine Männerstimme, »es geht um Lisa-Marie Altmann. Die Hebamme hat Meldung gemacht, sie hat Auffälligkeiten bei den Herztönen festgestellt. Wir wollen kurz Ultraschall machen. Bringen Sie die Kleine runter auf die 3 A? Ich habe gerade einen Moment Zeit.«
    Komisch, dachte Tillie, warum sagte das die Hebamme nicht direkt auf der Station, sondern informierte gleich die Kardiologen? Stand es so schlecht um die kleine Lisa-Marie?
    »Ist gut, ich komme runter«, sagte sie. »Es ist günstig, die Mutter schläft gerade.«
    »In einer Viertelstunde hat sie das Baby wieder.« Dr. Werner legte auf.

    Tillie steckte ihr Rufgerät ein, nahm die Patientenakte von Lisa-Marie Altmann, die immer noch auf dem Tisch im Schwesternzimmer lag, und schob das Bettchen mit dem Baby aus der Station und in den Aufzug, um in den dritten Stock zu fahren.
    Vor der Milchglastür der Kardiologie wartete schon Dr. Werner. Er trug einen Arztkittel, hatte einen Bart und eine Brille. Tillie hatte ihn noch nie gesehen.
    »Guten Tag, ich bin Dr. Werner, der neue Oberarzt der Kardiologie.«
    Tillie lächelte und erwiderte den Gruß. »Schwester Tillie.«
    Dr. Werner beugte sich über das Bettchen. »Da haben wir ja das kleine Mädchen. Eine ganz Hübsche! Na, dann woll’n wir mal sehen, ob die Vermutung der Kollegin stimmt. Ich denke, ich brauche fünfzehn bis zwanzig Minuten für die Untersuchung. Wenn ich fertig bin, rufe ich Sie an, und dann können Sie sie wieder abholen, ja?«
    »In Ordnung.« Tillie drehte sich um. Die Fahrstuhltür stand immer noch offen. Tillie ging hinein, die Tür schloss sich, und der Fahrstuhl fuhr nach oben.
    Jonathan atmete tief durch. Dann nahm er den nächsten Fahrstuhl und fuhr mit Lisa-Marie in ihrem rollenden Bettchen ins Erdgeschoss.
    Als er die Klinik durch einen Notausgang verließ, trug er das Neugeborene hinaus in die Kälte und die wenigen Meter bis zu seinem Auto, legte es in die Tragetasche auf dem Beifahrersitz und fuhr davon.
    Er war so glücklich wie seit Jahren nicht mehr. Hatte keinerlei Schuldbewusstsein. Denn er hatte das Kind nicht entführt,
sondern zu sich geholt. Und das war - verdammt nochmal - sein gutes Recht.
     
    Auf der Säuglingsstation war die Hölle los. Tillie wickelte im Akkord, ein Baby übergab sich pausenlos, eine Mutter mit Brustentzündung hatte starke Schmerzen, und inmitten dieses Chaos, als Tillie an alles gedacht hatte, aber nicht an Lisa-Marie in der Kardiologie, klingelte um Viertel nach zwei Leonie und verlangte ihr Kind.
    Tillie sah auf die Uhr. Eine Dreiviertelstunde war um. Die brauchten aber lange mit der Untersuchung, hoffentlich war das kein schlechtes Zeichen. Sie erklärte der erschrockenen Leonie die Situation und versprach, gleich mal in der Kardiologie anzurufen und zu fragen, ob sie Lisa-Marie jetzt abholen könne.
    »Waaaaas?«, brüllte Oberschwester Ute aus der Kardiologie entsetzt, und es tat Tillie in den Ohren weh. »Was erzählen Sie da? Hier gibt es keinen Dr. Werner. Ich habe den Namen noch nie gehört. Und - warten Sie mal kurz …« Tillie, die sich wunderte, dass sie überhaupt
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