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Die Tote im See

Die Tote im See

Titel: Die Tote im See
Autoren: Raymond Chandler
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kannten.«
    Degarmo sagte: »Wir wollen rübergehen und tun, was zu tun ist.«
    Wir gingen weiter am Seeufer entlang und kamen zu Kingsleys
    Blockhaus. Wir stiegen die schweren Stufen hinauf. Patton ging leise
    über die Terrasse zur Tür. Er versuchte sich am Windfang. Er war nicht verriegelt. Er öffnete ihn und probierte es mit der Tür. Sie war
    ebenfalls nicht verschlossen. Er ließ sie zu, hielt aber den Knopf zum
    öffnen zurückgedreht in der Hand, und Degarmo hielt den Wind‐
    fang und öffnete ihn weit. Patton machte die Tür auf, und wir stie‐
    felten hinein.
    Derace Kingsley lag mit geschlossenen Augen zurückgelehnt in
    einem tiefen Sessel neben dem erkalteten Kamin. Neben ihm auf
    dem Tisch standen ein leeres Glas und eine Whiskyflasche, die so gut wie leer war. Der Raum roch nach Whisky. Ein Teller neben der
    Flasche war voll von Zigarettenstummeln. Zwei zusammengeknüll‐
    te leere Packungen lagen auf dem Kippenhaufen.
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    Alle Fenster im Zimmer waren geschlossen. Es war schon fast
    wieder stickig und heiß hier drinnen. Kingsley trug einen Pullover,
    und sein Gesicht war rot und aufgedunsen. Er schnarchte, und seine
    Hände hingen schlaff über den Sesselrand, wobei seine Fingerspitzen den Boden berührten.
    Patton ging bis auf wenige Schritte auf ihn zu und blickte dann ei‐
    nen langen Augenblick schweigend zu ihm hinunter.
    »Mr. Kingsley«, sagte er dann mit ruhiger fester Stimme, »wir
    müssen uns ein wenig mit Ihnen unterhalten.«
    Kingsley zuckte zusammen, öffnete seine Augen und bewegte sie,
    ohne den Kopf zu bewegen. Er blickte auf Patton, dann auf Degar‐
    mo und zuletzt auf mich. Seine Augen waren schwer, aber ihr Blick
    wurde klarer. Er setzte sich langsam im Sessel hoch und rieb sich mit den Händen seine Wangen.
    »Ich habe geschlafen«, sagte er. »Ich bin vor ein paar Stunden ein‐
    geschlafen. Ich war vermutlich betrunken bis zum Geht‐nicht‐mehr.
    Jedenfalls stärker betrunken, als mir lieb war.«
    Er ließ seine Hände fallen und schlaff herabhängen.
    Patton sagte: »Das ist Lieutenant Degarmo von der Bay City‐
    Polizei. Er muß mit Ihnen sprechen.«
    Kingsley sah Degarmo kurz an, dann kam sein Blick zu mir. Seine
    Stimme klang, als er wieder sprach, nüchtern und ruhig und tod-müde.
    »Sie haben sie ihnen also ausgeliefert?« sagte er.
    Ich sagte: »Ich hätte’s getan, aber ich hab’s nicht getan.«
    Kingsley dachte darüber nach, während er Degarmo ansah.
    Patton hatte die Eingangstür offen gelassen. Er zog die braunen Vorhänge an den beiden Vorderfenstern auf und zog die Fenster
    herunter. Er setzte sich in einen Sessel in Fensternähe und faltete die Hände über seinem Bauch. Degarmo stand da und blickte finster zu
    Kingsley hinunter.
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    »Ihre Frau ist tot, Kingsley«, sagte er brutal. »Falls Ihnen das nicht
    bekannt sein sollte.«
    Kingsley starrte ihn an und befeuchtete seine Lippen.
    »Er nimmt’s nicht besonders tragisch, stimmt’s?« sagte Degarmo.
    »Zeigen Sie ihm den Schal.«
    Ich zog den grüngelben Schal heraus und ließ ihn hinunter‐
    baumeln. Degarmo zeigte mit seinem Daumen drauf. »Ihrer?«
    Kingsley nickte. Wieder befeuchtete er seine Lippen.
    »War leichtsinnig von Ihnen, ihn liegenzulassen«, sagte Degarmo.
    Er atmete ein wenig schwer. Seine Nase war schmal und weiß, tiefe
    Linien liefen von den Nasenflügeln zu den Mundwinkeln.
    Kingsley sagte ganz ruhig: »Wo liegenlassen?« Er hatte nur den Schal angesehen. Und mich überhaupt nicht.
    »In den Granada Apartments, Eighth Street in Bay City. Apart‐
    ment 618. Sag ich Ihnen damit etwas Neues?«
    Kingsley hob jetzt ganz langsam seine Augen, um meinen zu be‐
    gegnen. »Dort also war sie?« flüsterte er.
    Ich nickte: »Sie wollte nicht, daß ich zu ihr käme. Und ich wollte ihr das Geld nicht geben, bevor sie sich nicht mit mir unterhalten hätte. Sie hat zugegeben, daß sie Lavery getötet hat. Sie zog einen Revolver und wollte mir die gleiche Behandlung zukommen lassen.
    Jemand kam hinter dem Vorhang hervor und schlug mich nieder,
    bevor ich ihn erkennen konnte. Als ich wieder zu mir kam, war sie
    tot.«
    Ich erzählte ihm, wie sie getötet worden war und wie sie ausgese‐
    hen hätte. Ich erzählte ihm, was ich gemacht und was man mit mir
    gemacht hatte.
    Er hörte, ohne einen Muskel in seinem Gesicht zu verziehen, zu.
    Als ich meine Erzählung beendet hatte, deutete er mit einer unbestimmten Geste auf den Schal. »Und was hat der damit zu tun?«
    »Der Lieutenant
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