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Die Tochter der Wälder

Die Tochter der Wälder

Titel: Die Tochter der Wälder
Autoren: Juliet Marillier
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Blick und daran, wie Finbar ausgesehen hatte.
    Es wird noch viel schwerer werden. Ich wusste nicht, ob dieser Gedanke aus meinem eigenen Geist oder aus dem meines Bruders stammte. Es lief mir eiskalt über den Rücken.
    Dann sagte er laut: »Du solltest eins nicht vergessen, Sorcha. Vergiss nicht, dass ich immer für dich da sein werde, ganz gleich, was geschieht. Das ist wichtig. Und jetzt komm, es ist Zeit zurückzugehen.«
    ***
    Wenn ich mich an die Jahre meiner Kindheit erinnere, ist das wichtigste der Baum. Wir gingen oft dorthin, alle sieben, nach Süden, durch den Wald oberhalb des Seeufers. Als ich noch klein war, trugen Liam oder Diarmid mich auf den Rücken; sobald ich laufen konnte, nahmen zwei Brüder mich bei den Händen und zogen mich mit, manchmal mit eins, zwei, drei schaukelnd, während die anderen vor ihnen zum See liefen. Wenn wir näher kamen, wurden wir alle stiller. Das Ufer, wo die Buche wuchs, war ein Ort tiefster Magie, und wir dämpften unsere Stimmen, wenn wir uns rund um den Baum versammelten.
    Für uns alle war klar, dass dieses Land ein Tor in jene andere Welt darstellte, das Reich von Geistern und Träumen, das Reich des Feenvolks. Der Ort, an dem wir aufwuchsen, war so voller Magie, dass sie beinahe zum Alltagsleben gehörte – nicht, dass man jedes Mal, wenn man zum Beerenpflücken nach draußen gegangen wäre oder um Wasser vom Brunnen zu holen, einem dieser Wesen begegnet wäre, aber jeder, den wir kannten, hatte einen Freund, der einen Freund hatte, der zu weit in den Wald gegangen und dann verschwunden war, oder der sich in einen Pilzring gewagt hatte, eine Weile lang weg gewesen und auf kaum merkliche Weise verändert zurückgekehrt war. An diesen Orten konnten seltsame Dinge geschehen. Man konnte für vielleicht fünfzig Jahre verschwinden und immer noch als junges Mädchen zurückkehren; oder man verschwand für einen Zeitraum, der nach menschlichem Ermessen nicht mehr als ein Blinzeln war, und kehrte runzlig und vom Alter gebeugt zurück. Diese Geschichten faszinierten uns, aber sie genügten nicht, uns vorsichtig werden zu lassen. Wenn so etwas geschehen sollte, würde es geschehen, ganz gleich, ob es einem gefiel oder nicht.
    Die Birke allerdings war etwas anderes. Hier lebte ihr Geist, der unserer Mutter, nachdem die Jungen den Baum am Tag ihres Todes auf ihre eigene Bitte hin gepflanzt hatten. Nachdem Mutter ihnen gesagt hatte, was sie tun sollten, hatten Liam und Diarmid, damals sechs und fünf Jahre alt, ihre Spaten zu der Stelle gebracht, die sie beschrieben hatte, die weiche Erde aufgeworfen und den Samen am flachen, grasigen Ufer des Sees vergraben. Mit schmutzigen Händen hatten die Jüngeren geholfen, die Erde festzudrücken, und Wasser geholt. Später, nachdem man ihnen gestattete, mich mit aus dem Haus zu nehmen, gingen wir alle zusammen dorthin. Das war für mich das erste Mal; und danach versammelten wir uns dort zweimal im Jahr, zum Mittsommer- und Mittwintertag.
    Grasende Tiere hätten den kleinen Schössling fressen, der kalte Herbstwind seinen schlanken Stamm brechen können, aber er war verzaubert, und innerhalb weniger Jahre war er hochgeschossen und anmutig, sowohl in seiner nackten Winterstrenge wie in seiner silbrigen, rauschenden Sommerschönheit. Ich sehe die Stelle nun in meinem Geist deutlich vor mir, und uns Sieben, wie wir im Schneidersitz rund um die Birke sitzen, uns nicht berühren, aber so deutlich verbunden sind, als hätten wir uns an den Händen gefasst. Wir waren älter, aber immer noch Kinder. Ich war vielleicht fünf, Finbar acht. Liam hatte gewartet, bis wir alt genug waren, um zu verstehen, bevor er uns diese Geschichte erzählte.
    ***
    … Jetzt war etwas an diesem Zimmer, was uns Angst machte. Es roch anders, seltsam. Man hatte unsere neue kleine Schwester weggebracht, und es gab viel Blut, und die Leute sahen verängstigt aus und liefen hin und her. Mutters Gesicht war so blass, als sie dalag, mit dem dunklen Haar auf dem Kissen. Aber sie gab uns den Samen und sagte zu uns, zu Diarmid und mir: »Ich möchte, dass ihr das mitnehmt und es am See pflanzt. In dem Augenblick, wo ich gehe, wird der Samen neues Leben hervorbringen. Und dann, meine Söhne, werde ich immer bei euch sein, und wenn ihr an diesem Ort seid, werdet ihr wissen, dass ihr Teil eines großen Zaubers seid, der uns alle miteinander verbindet. Unsere Kraft kommt aus diesem Zauber, aus der Erde und aus dem Himmel, aus dem Feuer und aus dem Wasser. Fliegt hoch, schwimmt
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