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Die Suendenburg

Die Suendenburg

Titel: Die Suendenburg
Autoren: Eric Walz
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eben ein Tor.
    Es wäre falsch, die Zeremonie schmuck- oder würdelos zu nennen, es wurde allen Bräuchen Genüge getan. Und doch fehlte etwas. Ich musste eine Weile überlegen, bis ich den richtigen Begriff dafür fand: die große Klage. Gewiss, es gab einige Traurigkeit, doch nur unter denen im Gesinde, für die Traurigkeit eine Lebenseinstellung ist. Auf Baldur trifft weder das eine noch das andere zu; die Gräfin hat keinen Grund, ihrem bisherigen Leben nachzuweinen; für die Mehrzahl des Gesindes ist ein Herr wie der andere. Entsetzen trat an die Stelle des Grams. Eine aufgeschlitzte Kehle und ein Blutbad waren die rechten Zutaten für Todesangst und abergläubischen Schrecken.
    Man stellte schließlich einen Schemel auf das Grab, auf dem die Gräfin Platz nahm, und dann ließ man sie entsprechend dem Brauch allein die Trauerwache halten.
    Wenn ich aus meinem Fenster blicke, sehe ich sie dort sitzen, aufrecht, unbeweglich, den Blick aufs Tal gerichtet, ein weißer Punkt im schweren Grün des Septembers, und ich beneide sie. Ja, noch immer, verborgen in all dem Hass, beneide ich sie.

Elicia
    Als ich am heutigen Morgen – ich sollte eher Mittag sagen – aufwachte, fühlte ich mich leer, wie ausgewrungen, es war nichts mehr in mir drin, gar nichts. Ich konnte nicht weinen, und es war mir eine Qual, aufzustehen. Nach zwei Weintrauben war ich satt. Ich dachte an gar nichts, notwendige Bewegungen machte mein Körper ohne mich, jedenfalls ohne dass ich eine Absicht mit den Bewegungen verknüpfte. Eine Weile lang saß ich einfach nur da.
    Der erste Gedanke, an den ich mich erinnere, beschäftigte sich mit einer Haarnadel und war noch völlig wirr. Kurzzeitig erweckte sie in mir den Wunsch, mich damit zu verletzen, und das war unheimlich, weil ich diese Gefühle zuletzt als Kind spürte. Dann, als ich sie in der Hand hielt, wollte ich jemand anderen damit verletzen, ich weiß auch nicht, wen, irgendjemanden, den Täter, vermute ich. Aber nach wenigen Augenblicken, in denen die Haarnadel eine Waffe gegen mich und andere gewesen war, erinnerte sie mich nur noch an Bilhildis. Sie steckt mir mit Nadeln wie dieser jeden Tag die Haare, aber ich glaube nicht, dass ich deswegen an sie dachte.
    Bilhildis ist für mich der Inbegriff der Trostlosigkeit. Ich mag sie, sie war meine Amme, und ich erinnere mich nicht, dass sie je gemein zu mir gewesen ist. Aber sie war immer schon … Das Wort, das mir hierzu einfällt, klingt reichlich merkwürdig: unbewohnt. Ja, sie macht auf mich denselben Eindruck wie ein verlassenes Haus. Ihre Wesensart hängt sicherlich mit den furchtbaren Ereignissen in ihrer Jugend zusammen, die zu ihrer Stummheit geführt haben. Wie viel Trostlosigkeit seit damals in ihr steckt, lässt sich daran ermessen, dass der Tod ihrer drei Söhne ihren Zustand nicht verschlimmert hat. Sie schlurft heute wie seit jeher von hier nach dort, treibt die Zofen zur Arbeit an, kämmt mein Haar, kämmt Mutters Haar, bindet ihr eigenes zu einem Knoten, der wie ein glatter, grauer, uralter Flussstein auf ihrem Kopf liegt, und trägt schmucklose Kleider. Ich musste wohl an sie denken, weil mein Zustand mich an den ihren erinnerte. Würde ich fortan so sein wie sie? Würde Vater eine solche Tochter wollen?
    In diesem Augenblick begann sich die Leere in mir langsam zu füllen. Vaters Tod empörte mich. Es wäre für mich ebenso traurig gewesen, aber weniger unerträglich, wenn er im Kampf gestorben oder dem Fieber erlegen oder einfach tot umgefallen wäre. Dass er einen gewaltsamen, wenngleich nutzlosen Tod gestorben war und dass ich in seinem Blut gestanden hatte …
    Ich erbrach die beiden Weintrauben. Ich spülte mir den Mund mit einem ganzen Krug voll Wasser aus, ließ mich auf mein Lager fallen und versuchte mit aller Kraft, zu weinen. Erneut misslang es mir. Dafür beschimpfte ich mich, und über all dieser Verzweiflung muss ich wohl eingeschlafen sein, denn das Nächste, an das ich mich erinnere, ist, wie Baldur in unser Gemach hereinkam.
    Er trug eine herbe Miene. Baldur verfügt bloß über zwei Mienen: die herbe des Kriegers vor der Schlacht, mit Stirnfalten und Adlerblick, und die gelöste des Kriegers am Abend nach der Schlacht, ausgelassen lachend.
    »Du bist wach«, sagte er.
    Zu sprechen machte mir Mühe. Ich hatte auch keine Lust dazu. »Seit gerade eben.«
    »Hat der Schlaf dir gutgetan?«
    »Ich bin mir nicht sicher. Er war wohl nötig, aber ich fürchte mich, das nächste Mal einzuschlafen.«
    Mit dieser
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