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Die Stunde des Reglers: Thriller (German Edition)

Die Stunde des Reglers: Thriller (German Edition)

Titel: Die Stunde des Reglers: Thriller (German Edition)
Autoren: Max Landorff
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wusste, als er sagte? Und mehr als er, Gritz?

Freitag, 6. Oktober
    (t 0 minus 56)
    Das Städtchen Penzance lag inmitten einer hügeligen Landschaft in Cornwall, direkt am Meer. Graue Steinhäuser mit weißen Gartenzäunen, ein Leuchtturm hoch über den Klippen, eine südenglische Idylle. Aber Penzance hatte auch einiges zu bieten, das so gar nichts mit den gängigen britischen Klischees zu tun hatte. Hier wuchsen Palmen, da der Golfstrom direkt an der Küste Cornwalls vorbeifloss und für ein außergewöhnlich warmes Klima sorgte. Oder das Essen: Es gab wunderbare Lokale, in denen nicht nur italienisch, pakistanisch, marokkanisch, chinesisch oder französisch gekocht wurde, sondern die auch von echten Italienern, Pakistanis, Marokkanern, Chinesen oder Franzosen geführt wurden, welche alle irgendwann ins friedliche Penzance gekommen – und geblieben waren.
    Es gab auch eine eigene kleine Zeitung, »The Penzance«, eine Wochenzeitung, die jeden Montag erschien. Der Kontrast zwischen »The Penzance« und den üblichen englischen Boulevardzeitungen, die nichts mehr liebten als den blutigen Krawall, hätte nicht größer sein können. Nein, »The Penzance« war ein freundliches Blatt. Das hatte mit seinem Verleger zu tun, John Pendelburg, der gleichzeitig auch Chefredakteur war. Als er die Zeitung vor 21 Jahren gegründet hatte, stand seine Philosophie fest: Eine Zeitung war dann erfolgreich, wenn sie schrieb, was die Menschen lesen wollten. Jeder Mensch hatte eine Version von seinem Leben, »und genau diese Version schreiben wir auf«, pflegte Pendelburg zu sagen. »Unsere Leser sind unsere Freunde.«

    John Pendelburg legte großen Wert auf ein ruhiges Leben voller vertrauter Gewohnheiten. Schlafen bis neun Uhr, erstes Frühstück, dann im Büro eine Tasse Tee mit etwas Gebäck. Nach dem Mittag ein kurzes Schläfchen auf seiner Bürocouch. Später wieder Tee, mit den wunderbaren Scones, Clotted Cream und selbstgemachter Aprikosenmarmelade. Kurz vor 18 Uhr noch ein kleiner Whiskey, ein irischer, mit der Sekretärin. So vergingen die Tage, je ähnlicher, desto lieber war es Pendelburg. Wenn unvorhergesehene Arbeit kam, überließ er sie seinen zwei Redakteuren. Es gab nur wenige Dinge, um die er sich noch persönlich kümmerte.
    Doch an diesem kühlen, klaren Freitagmorgen, Anfang Oktober, war Pendelburg früh ins Büro gekommen, früher als alle Kollegen. Er hatte einen Nachruf zu schreiben, und Nachrufe waren immer Chefsache. Hier die richtigen Worte zu finden, das Leben eines Verstorbenen so zu beschreiben, dass jedermann zufrieden war, hielt Pendelburg für eine besondere Kunst. Er setzte sich an seinen Computer, und wie immer fiel ihm als Erstes auf, dass sein gewaltiger Bauch an die Schreibtischkante stieß. Pendelburg machte dafür aber nicht seinen Bauch verantwortlich, sondern den Schreibtisch. Oder war es der Stuhl? Er nahm sich jedenfalls wie schon so oft vor, mit seiner Sekretärin über neue Möbel zu sprechen.
    Bei dem Nachruf gab es ein Problem. Nein, es war nicht das Leben des Toten. »Mister Big«, wie sie ihn alle in Penzance genannt hatten, war ein tadelloser Gentleman gewesen. »Big« – weil er zwei Meter und vier Zentimeter groß gewesen war. Und »Mister« – weil er ein eleganter Mann gewesen war, immer gut gekleidet, immer freundlich und zuvorkommend. Zusammen mit seiner Frau hatte er ein kleines Hotel betrieben. Und auch sonst hatte er sich im Ort engagiert, war etwa einer der großzügigsten Sponsoren der lokalen Kunstszene gewesen. Nur 54 Jahre war er alt geworden. Vor etwa zehn Jahren war er nach Penzance gekommen, von einem Tag auf den anderen, und hatte das Hotel gekauft. Mister Big stammte aus Riga, er war zur See gefahren. Und einmal mit einem Schiff im Hafen von Penzance gelandet. Von da an hatte er gewusst, dass er hier irgendwann einmal leben wollte. ›Eine Liebe auf den ersten Blick‹, formulierte Pendelburg. Das gefiel ihm.
    Doch da war die Sache mit seinem Tod. Pendelburg saß am Computer und schüttelte den Kopf. Wie bitte sollte man das schreiben? Der Mann war am vergangenen Montag in einem Maisfeld von einem Mähdrescher in tausend Stücke zerfetzt worden. Was hatte Mister Big bloß in dem Maisfeld zu suchen? Und warum hatte Frank Miller, der erfahrene Mähdrescherfahrer, nichts bemerkt? Good heavens, dachte Pendelburg, das muss ich glätten, so kann man das niemandem zumuten. Er blickte auf seine Uhr. Zehn Minuten nach halb zehn Uhr. Um zehn kam die Sekretärin. Er
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