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Die Stein-Strategie: Von der Kunst, nicht zu handeln (German Edition)

Die Stein-Strategie: Von der Kunst, nicht zu handeln (German Edition)

Titel: Die Stein-Strategie: Von der Kunst, nicht zu handeln (German Edition)
Autoren: Holm Friebe
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oben auf den Sachbuch-Bestsellerlisten. Die englischsprachige Wikipedia listet unter dem Stichwort „cognitive biases“ weit über einhundert solcher Denkfehler auf, die sich teils überlappen, teils gegenseitig aufheben.
    Man könnte den Action bias leicht für einen Kollateralschaden der hektischen Neuzeit halten, eine Art kulturelles oder zivilisatorisches ADHS. In der Antike genoss bekanntlich die Muße noch einen viel höheren Stellenwert, als Ausweis gehobener Bürgerlichkeit und finanzieller Autonomie. Erst in der Neuzeit wurde der Müßiggang als Faulheit gebrandmarkt, und die „protestantische Ethik“ verlangte, dass ein jeder sich Gott zum Gefallen nach Kräften abstrampele. Neu hinzugekommen ist in jüngster Zeit, dass dieMenschen die daraus resultierende Verausgabung stolz vor sich her tragen und sich mit ihrem Überarbeitet-sein sogar brüsten.
    Diesen „Erschöpfungsstolz“ hat Stephan Grünewald beobachtet; in seiner Funktion als Leiter des Rheingold-Marktforschungsinstituts ist er so etwas wie der Psychologe der Nation: „Früher war der Vertreter stolz auf seinen Abschluss oder der Tischler stolz auf sein Möbel. Heute sind viele Arbeitsprozesse so zerlegt, dass wir kaum Rückmeldungen bekommen. Stolz sind viele Menschen daher auf den Grad der Erschöpfung“, fasst Grünewald im Interview seinen nationalpsychopathologischen Befund der erschöpften Gesellschaft zusammen, den er aus etwa 10 000 tiefenpsychologischen Gesprächen gewonnen hat: „Bei einem Werkstück bin ich zu Pausen gezwungen, sei es, weil die Farbe trocknen muss, ich Bedenkzeit brauche, die Werkstatt schließt. Heute sind wir rund um die Uhr betriebsam und haben so das Gefühl, etwas zu erreichen. Irgendwann aber hat man dann ständig Kopfschmerzen oder ist am Rande des Burnouts.“ Demnach wäre die „Überbetriebsamkeit“, wie Grünewald sie nennt, eine Zivilisationskrankheit jüngeren Datums.
    Tatsächlich aber ist das dem Action bias ursächliche Phänomen viel älter, wenn es uns nicht gar irgendwo tief in die DNA eingeschrieben ist. Die evolutionsbiologische Herleitung wählt auch Rolf Dobelli, der in seinem Brevier Die Kunst des klaren Denkens den Action bias als einen von 52 Denkfehlern behandelt, „die Sie besser anderen überlassen“: „In einer Jäger-und-Sammler-Umgebung, für die wir optimiert sind, zahlt sich Aktivität viel stärker aus als Nachdenken. Blitzschnelles Reagieren war in der Vergangenheit überlebenswichtig. Nachdenken konnte tödlich sein.“ In einer komplexen Zivilisation mit abstrakten Bedrohungsszenarien hat der Action bias aber nicht selten katastrophale Konsequenzen.
    Dobelli fasst die Lehre, die aus dem Action bias zu ziehen ist, so zusammen: „In unklaren Situationen verspüren wir den Impuls, etwas zu tun, irgendetwas – egal, ob es hilft oder nicht. Danach fühlen wir uns besser, selbst wenn sich nichts zum Besseren gewendet hat. Oft ist das Gegenteil der Fall. Kurzum, wir handeln tendenziell zu schnell und zu oft. Daher: Wenn die Situation unklar ist, unternehmen Sie nichts, gar nichts, bis Sie die Situation besser einschätzen können. Halten Sie sich zurück.“
    Leichter gesagt, als getan.
    Schnell zu handeln, irgendetwas anzuzetteln, um bloß nicht stillzustehen, gebietet die institutionelle Logik, in der jeder Verantwortungsträger sich durch dezisionistische Initiative hervortun muss. Wo wir hinschauen, können wir dem Action bias bei der Arbeit zuschauen. Oder besser gesagt: Ein erheblicher Anteil der täglich geleisteten Arbeitsstunden besteht aus schlecht begründeter, opportunistischer oder schlicht simulierter Aktivität. Sie ist bestenfalls unproduktiv: eine Verschwendung von Ressourcen, ein psychologisch begründeter Überaufwand, den sich Individuen, Organisationen und die Gesellschaft als Ganzes leisten. Schlimmstenfalls richtet sie individuellen und volkswirtschaftlichen Schaden an: weil sie negative Effekte produziert oder dadurch andere, sinnvollere Maßnahmen unterbleiben.
    Schon Mediziner der Antike kannten das Prinzip Ut aliquid fiat  – und verordneten sehenden Auges sinnlose Therapien und wirkungslose Medizin, „damit etwas getan wird“. Um Kranken die unangenehme Botschaft zu ersparen, dass man im Augenblick nichts für sie tun kann, sie sich also je nach Schwere der Krankheit gedulden und auf die körpereigenen Selbstheilungskräfte vertrauen oder dem bevorstehenden Ende ins Auge sehen müssen, simuliert man Therapien, die nicht mehr
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