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Die Seelenfischer (Seelenfischer-Trilogie) (German Edition)

Die Seelenfischer (Seelenfischer-Trilogie) (German Edition)

Titel: Die Seelenfischer (Seelenfischer-Trilogie) (German Edition)
Autoren: Hanni Münzer
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um den
Charme vergangener Epochen zu erhalten. Alle vorhandenen Stilelemente wie der Stuck
an Decken und Wänden und das mit Malereien ausgeschmückte Treppenhaus wurden originalgetreu
restauriert. Die anderen fünf Wohnungen waren an gut situierte Römer vermietet,
von denen alle, bis auf die alte Contessa von gegenüber, wie in jedem Jahr vor der
Augusthitze ans Meer geflohen waren.
    Lukas von Stetten fühlte sich an diesem Morgen ungewohnt gut. Zum
ersten Mal seitdem das Schicksal vor drei Monaten erneut innerhalb seiner
Familie zugeschlagen hatte, hatte er eine Nacht ohne Alpträume verbracht. Sogar
der ihn seit seiner Kindheit verfolgende Traum der Folterung einer schönen
jungen Frau war ihm erspart geblieben. Ein klein wenig regte sich das schlechte
Gewissen in ihm - ob des ungewohnten Tatendrangs, den acht Stunden gesunden
Schlafes mit sich gebracht und ihn unverhofft in eine jener verheißungsvollen
Stimmungen versetzt hatten, die einen ohne besonderen Grund nur wenige Tage im
Jahr überkamen: Man wachte an einem ganz normalen Morgen auf und unversehens hatte
sich die geheimnisvolle Chemie des Körpers über Nacht optimal auskalibriert und
man fand sich in jener positiven Stimmung wieder, einer Mischung aus guter
Laune und frischer Energie. Ohne viel Federlesens nahm man genau die Aufgaben
in Angriff, vor denen man sich Tag für Tag gedrückt hatte. Unter dem Eindruck
seines frisch gewonnenen Optimismus hoffte Lukas, dass ihm heute die sehnlichst
erwartete Genehmigung für den Zutritt zur geheimen Vatikanbibliothek erteilt werden
würde.
    Zunächst jedoch stolperte er im Eingangsflur über ein paar rote,
gefährlich hochhackige Lederpumps. Lucie! In Gedanken unterdrückte er einen
Fluch, der nicht zu einem aussichtsreichen Jesuitenpater, der kurz vor dem
Abschluss seiner Dissertation stand, gepasst hätte. Stattdessen hob er die
Schuhe mit einem tiefen Seufzer, der sein Temperament wieder ins Lot bringen
sollte, auf und platzierte sie ordentlich nebeneinander in den Schuhschrank.
Dieser enthielt genau drei Paar Herrenschuhe und circa fünfzig Paar
Frauenschuhe in allen Variationen und Farben und in zum Teil Schwindel
erregenden Höhen. Der Anblick entlockte ihm ein nachsichtiges Schmunzeln. Die
bunte Schar gehörte ausnahmslos seiner Zwillingsschwester Lucie. Vor etwa sechs
Wochen hatte sie plötzlich mit Sack und Pack und mit den Worten „Frag nicht“
vor seiner Tür gestanden. Es ging bei ihr, wie schon so oft, um die große Liebe,
die sich für sie wieder einmal als zu klein erwiesen hatte - was ihren Bruder jedoch
nicht weiter beunruhigte. Bei Lucie kam dies seit ihrer Pubertät in regelmäßigen
Abständen vor. Genau genommen seitdem sich bei seiner Schwester quasi über
Nacht die Proportionen auf rätselhafte Weise verschoben hatten und aus dem
ungelenken Mädchen mit den zu langen Armen und Beinen ein wunderschönes Mädchen
geformt hatten. Voll stürmischen Elans stürzte sie sich seither in eine große
Liebe nach der anderen, brach dabei regelmäßig Männerherzen, um danach kopfüber
in die nächste Affäre zu stolpern („Ehrlich, ich kann nichts dafür, Lukas...“).
Allerdings hatte der junge Jesuit nicht damit gerechnet, dass sich seine
Zwillingsschwester ausgerechnet den Aufenthaltsort ihres Bruders in Rom als
Sprungbrett für ihr nächstes Abenteuer aussuchen würde.
    Bevor er auch nur einmal Amen hatte sagen können, hatte sich Lucie
bereits bei ihm in der Wohnung eingenistet. Der zwei Tage später angelieferte
Flügel seiner musikalischen Schwester, und nicht die vielen Schuhe, hatten dem
Bruder endgültig signalisiert, dass sie einen längeren Aufenthalt in Rom
plante. Seither versuchte er immer wieder, ihr Begriffe wie Ordnung,
Privatsphäre und Ruhe beizubringen, wie zum Beispiel, dass man Musik auch in
geringerer Lautstärke genießen konnte. Jedoch scheiterten seine geduldigen
Versuche regelmäßig an der sorglosen Unbekümmertheit seiner Schwester, und dies
seit 28 Jahren. Lucie war sein Zwilling, er liebte sie abgöttisch, aber
manchmal … Ihm erging es nicht anders als den meisten Männern dieser Erde, die
versuchten, das geheimnisvolle Wesen Frau zu ergründen. Seufzend schloss er den
Schrank und fragte sich, ob es womöglich so etwas wie einen Schuhteufel gab,
der nur Frauen befiel? Es gab kaum ein anderes zweieiiges Zwillingspaar, das
sich äußerlich mehr glich und vom Wesen her unähnlicher gewesen wäre, als Lukas
und Lucie von Stetten. Es gibt Menschen, die, wenn sie einen
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