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Die Seele des Ozeans (German Edition)

Die Seele des Ozeans (German Edition)

Titel: Die Seele des Ozeans (German Edition)
Autoren: Britta Strauss
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Distanz zwischen ihm und dem Wesen und berührten es. Allmächtiger, wie kalt es war. Er schmiegte seine Hände um den silberweißen Leib, hob es hoch und legte es an seine Brust.
    Eisig. Fremd. Unheimlich.
    Angus fühlte sich wie in einem Wintersturm gefangen, der eine Schicht aus Frost um alles Lebendige legte. Nein, er konnte keine Liebe empfinden. Er konnte außer bitterer Qual überhaupt nichts empfinden. Fiona war fort.
    Nie wieder würde er sich lebendig fühlen, und doch zwang ihn eine höhere Macht dazu, das Kind zu umarmen, ihm von seiner Wärme abzugeben und es hinauf zum Haus zu tragen. Er legte es in die hölzerne Wiege, die er selbst gebaut hatte, hüllte es in zwei Decken und gab ihm eine der Flaschen zu trinken, die Fiona gekauft und im Küchenschrank gehortet hatte.
    Unablässig ruhte der kristallhelle Blick des Kindes auf ihm. Angus bildete sich ein, Dankbarkeit darin zu sehen.
    Dann wieder war es ihm, als lauere in diesen Augen nichts als heimtückische Bosheit und Kälte, und nur einen Moment später empfand er das Baby als das reinste, wunderschönste und vollkommenste Wesen, das je auf Erden gelebt hatte.
    Es dauerte nicht lange, bis es die Flasche leer getrunken hatte.
    Angus stellte sie auf den Boden, zog einen Stuhl an die Wiege und sank darauf nieder. Verzweiflung begrub ihn wie ein Felsbrocken unter sich. Fiona war tot. Die Liebe seines Lebens war tot. Sie würde nie wieder zurückkehren.
    „Kennst du Lir?“, murmelte er mit gepresster Stimme. „Den Gott des Meeres? Vielleicht sollte ich dich nach ihm benennen. Die Leute hier erzählen sich gerne Geschichten vom Tod. Überall ist der Tod. In diesem vermaledeiten Land hausen mehr Geister als lebendige Wesen.“
    Wer ist Lir?, schien ihn der Blick des Kindes zu fragen. Erzähle mir von ihm.
    Und Angus gehorchte. Als könnte ihn seine Stimme davor bewahren, den Verstand gänzlich zu verlieren.
    „Vor langer Zeit heiratete Lir die wunderschöne Aobh. Vier Kinder brachte sie zur Welt, doch als sie dem letzten das Leben schenkte, holte sie der Tod und entriss sie den liebenden Armen ihres Mannes. Nach langer Trauer verliebte sich Lir erneut. In Aobhs Schwester Aoife, die seiner toten Frau sehr ähnlich sah. Als Aoife aber kinderlos blieb, trachtete sie in ihrer Eifersucht danach, die Kinder ihrer Schwester zu töten. Sie wusste, dass Lir sie nicht um ihretwillen liebte, sondern dass er Aobh in ihr sah. Die einzige Frau, der je sein Herz gehört hatte.
    Ihr Zorn war furchtbar, doch bei aller Wut brachte sie es nicht über sich, den Kindern die Kehle durchzuschneiden. Stattdessen verwandelte sie sie in vier wunderschöne Schwäne. Neunhundert Jahre lang irrten die Unglücklichen ruhelos umher, bis der Fluch seine Macht verlor und sie freigab. Aber in jenem Augenblick, da sie zu Menschen wurden, stürzten all die verstrichenen Jahrhunderte, die sie als Schwäne verbracht hatten, auf sie ein. Die Verfluchten zerfielen zu Asche und wurden vom Wind in das Meer geweht, wo ihre Seelen noch heute umherirren. In besonders schönen Vollmondnächten hörst du ihr Klagelied, denn dann ist ihr Schmerz am größten.“
    Angus hörte seine Worte in der Stille des Hauses verklingen. Ein solch hasserfüllter Schmerz loderte in ihm auf, dass er glaubte, innerlich zu verbrennen. Er fuhr hoch, stolperte von der Wiege weg und aus dem Zimmer hinaus. Nein, er ertrug es nicht, neben dem Mörder seiner Frau zu sitzen! Dieses Ungeheuer war nicht sein Kind. Niemals! Er sollte es töten. Es ins Meer werfen und dann seinem eigenen Leben ein Ende bereiten.
    Kaum warf er die Tür ins Schloss, hörte er das Baby schreien, doch es war ihm gleich.
    Nie wieder …
    Diese beiden schrecklichen Worte beherrschten all sein Denken.
    Nie wieder …
    Oh Gott, Fiona, ich dachte, dass wir zusammen alt werden.
    Mit letzter Kraft holte er eine Whiskeyflasche aus der Vitrine, fiel in einen Sessel und kippte das brennende Zeug seine Kehle hinunter. Es dauerte viel zu lange, bis sein Bewusstsein endlich verschwamm.
    Über ihm im Zimmer weinte das Kind. In seinem Wimmern lag etwas so klägliches, dass Angus hastig weitertrank, um es nicht mehr zu hören. Endlich, als die Flasche leer war, fiel Schwärze über ihn her.

~ Gegenwart, August 2052 ~
    Als Kjell einen Finger zwischen die Seiten legte und das Buch zuklappte, rumorte eine dumpfe Wut in seinen Eingeweiden. Er verabscheute Angus Handeln, und doch spürte er sein Leid, schmeckte seine Verzweiflung wie einen bitteren Pelz auf seiner
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