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Die schärfsten Gerichte der tatarischen Küche

Die schärfsten Gerichte der tatarischen Küche

Titel: Die schärfsten Gerichte der tatarischen Küche
Autoren: Alina Bronsky
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eine Weile zu. Sie redete lange, ich sah in ihr Gesicht, das mich an einen schlecht ausgebackenen Pfannkuchen erinnerte. Ich verstand, dass Aminat doch nicht sterben würde. Jedenfalls nicht jetzt. Dass sie vielleicht sogar gesund war. Möglicherweise aber auch nicht. Man wusste es nicht so genau. Die Ergebnisse ließen sich unterschiedlich deuten. Vielleicht hatte sie, als ihr die Arme anschwollen, einfach nur allergisch reagiert. Vielleicht hatte sie aber auch Kontakt mit den Koch-Bakterien gehabt. In jedem Fall war ein Sanatorium für lungenschwache Kinder jetzt genau das Richtige.
    Ich hob die Augen zu den Rissen in der weißen Poliklinikdecke und dankte Gott.

[Menü]
    Sanatorium für lungenschwache Kinder
    Ich sagte Aminat nicht, dass sie nun für drei Monate in ein Sanatorium für lungenschwache Kinder kommen würde. Ich fand, zu viele Worte schadeten mehr, als dass sie halfen. Am vereinbarten Tag packte ich Aminats Unterhosen und Kleider in einen Rucksack und zog sie warm an. Das Sanatorium war im Nadelwald in einer alten Villa untergebracht, die einmal dem Klassenfeind gehört hatte. Wir mussten zwei Stunden mit dem Zug in den Norden fahren und an einem kleinen, verlassenen Bahnhof aussteigen.
    Es war sehr kalt. Aminat umklammerte meine Hand. Wir liefen eine halbe Stunde durch den Wald, bis wir die Tore des Sanatoriums erreichten. Ich fand immer und überall den kürzesten Weg, auch wenn ich mich nicht auskannte. Ich verlief mich grundsätzlich nicht, nicht in der Stadt und auch nicht im Wald. Ich wusste auch immer, wann welche Busse wohin fuhren, an der Haltestelle spürte ich einen Bus heranfahren, selbst wenn er noch außer Sichtweite war.
    »Warum ist es hier so schrecklich leise?« fragte Aminat.
    »Darum«, erklärte ich.
    Ich wusste, dass die neue Umgebung Aminat sehr ungewohnt vorkommen musste. Sie war als Stadtkind geboren. In den Wald war ich mit ihr noch nie gegangen, höchstens ab und zu in den Park. Sie hatte noch nie derart viele Bäume so dicht nebeneinander gesehen. Ihr ganzes Leben zierten rauchende Fabrikschornsteine ihren Horizont. Wenn Aminat abends im Bett lag, lullte das Rauschen des Straßenverkehrs sie ein.
    Aminat sah sich um. Ihre Augen wurden ganz schmal, ein untrügliches Zeichen, dass sie nicht einverstanden war. Dabei hatte sie noch keine Ahnung, dass sie hier für drei Monate bleiben musste, ganz allein, bei fremden Menschen, ohne ihre Großmutter.
    Ich öffnete das Tor, stieg eine steinerne Treppe zum Eingang hoch und betrat einen dunklen Flur, in dem an aufgereihten Haken feuchte Kindermäntel hingen. An den Wänden prangten verblasste Marienkäfer in Öl. In einiger Entfernung klapperte irgendwas.
    »Lass uns heimgehen«, sagte Aminat entschlossen.
    Ich befreite meine Finger aus ihrem Griff, nahm sie an der Kapuze und führte sie durch den langen Flur zu einer Glastür, hinter der an kleinen Tischen Kinder mit ausdruckslosen Gesichtern saßen und aus Metallschüsseln aßen, was mir endlich das Geklapper erklärte. Ich übergab Aminat, ihren Rucksack und die Überweisung der ersten Mitarbeiterin des Sanatoriums, die mir entgegenkam.
    Diese Frau trug einen vom vielen Waschen grau gewordenen Kittel. Sie hatte das Gesicht einer Führungskraft. Sie las den Zettel durch und sagte: »Aminat Kalganowa? Ah, ja«, nahm meine Aminat an die Hand und führte sie weg. Aminat ging mit, gehorsam wie ein gutes Mädchen, drehte sich aber im Laufen immer wieder zu mir um. Mir fiel ein Stein vom Herzen. Aminat rechnete wohl fest damit, dass ich, wenn sie in wenigen Minuten wiederkäme, sofort mit ihr nach Hause fahren würde.
    Ich wartete, bis ich die beiden nicht mehr sehen konnte, und trat eilig den Heimweg an. Ich schaffte es nicht, schnell genug außer Hörweite zu gelangen. Auf dem Waldpfad erreichte mich Aminats wütender, verzweifelter Schrei.
    Drei Wochen später bekam ich den Anruf, dass Aminat Scharlach bekommen hatte und abgeholt werden musste. Ich fuhr mit dem Zug in den Wald und lief den bereits bekannten Weg zum Sanatorium.
    Aminat saß in einem Glaskäfig, in dem ein Bett und ein Nachtschrank standen. Hier wurde sie von anderen Kindern isoliert gehalten, erklärte mir die Leiterin des Sanatoriums. Sie machte mich persönlich verantwortlich für die Scharlachepidemie, die nun ausbrechen würde, wenn Aminat es geschafft hätte, die anderen Kinder anzustecken.
    Aminat saß in T-Shirt und Strumpfhose auf dem Bett und starrte durch die Glaswände alle Menschen an, die an ihr
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