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Die Regentin (German Edition)

Die Regentin (German Edition)

Titel: Die Regentin (German Edition)
Autoren: Julia Kröhn
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dunklen Haare ihrer Scham sehen konnte – und niemand verbot es, als sei in diesem einen köstlichen Augenblick sämtliche Ordnung der Welt aufgehoben, jedes göttliche Gebot und alle überlieferten Sitten.
    Die meisten hatten nie zuvor in ihrem Leben so laute Geräusche gemacht, so wilde Bewegungen vollzogen – und auch später würden sie es nie wieder tun. Später galt es, den schrecklichen Überfall zu betrauern, die entweihte Kirche entsetzt zu mustern und schließlich das Zerstörte wiederaufzubauen. Aber in diesem einen Augenblick gab nichts anderes den Takt vor als eine wilde, ungezähmte Lebensfreude.
    Nur Bathildis stand steif. Der dunkle Wurm der Angst war weg – doch mit ihm schienen alle Glieder eingeschlafen zu sein und alle Gedanken abzusterben. Der Vater, den sie so eindringlich beschworen hatte, wurde wieder eine nebelige Gestalt, und die Taten der vergangenen Nacht schienen so befremdlich, dass eine Doppelgängerin sie ausgeführt haben musste.
    Sie kam erst wieder zu sich, als Hereswith wieder ihre Hand packte und sie drückte, diesmal nicht ängstlich, sondern freudig.
    »Du hast uns gerettet«, stammelte sie. »Wenn du nicht gewesen wärst... wenn du die Schiffe nicht gesehen hättest, Gott allein weiß, was dann mit uns geschehen wäre. Ja, du hast uns gerettet!«
    Der Stolz, der Bathildis befiel, war gemächlicher als die Lebensgier der anderen. Er reichte jedoch, dass sie den Hals reckte.
    »Ja«, sagte sie, ohne Scheu vor der Sünde des Hochmuts, »ja, das habe ich wohl.«
    Einen kurzen, trügerischen Moment lang dachte sie, dass sie in den letzten zwei Tagen das Schrecklichste in ihrem ganzen Leben erlebt hatte und dass sie – es solcherart hinter sich gebracht – keine Angst mehr haben müsste vor der vagen Zukunft. Das stimmte sie unendlich erleichtert. Und irgendwie enttäuscht.
    In den Tagen nach dem Überfall war Bathildis seltsam träge. Zuerst schien es ihr, als hätten sich sämtliche Kräfte in ihrem mutigen Handeln erschöpft und müssten erst wieder neu gesammelt werden, ehe sie in den alten Takt zurückfände. Doch irgendwie, so deuchte es sie nach einer gewisser Zeit, gab es diesen Takt nicht mehr.
    Was früher Ruhe und Sicherheit verheißen hatte – das gemeinsame Gebet oder das Feiern der Messe, die Lektüre der Kirchenväter und der Bibel, das Mahl im Refektorium oder das Ruhen im Dormitorium –, schien ins Leere zu lenken, was da plötzlich in ihr steckte oder auf den Schultern hockte: etwas Ungebärdiges, Machtvolles, Starkes. Etwas, das ihr den Mut gegeben hatte, die leere Kapelle zu räumen, allein zum Taubenturm zu schleichen und Godiva den Mund zuzuhalten. Etwas, das sich immer noch zu entladen suchte, in ähnlich grotesker Weise, wie die Nonnen nach den schrecklichen beiden Nächten getanzt hatten – und das sich im neuerlichen Alltag doch keinen Weg zu bahnen vermochte.
    Der Überfall wurde ausgiebig den Mönchen berichtet, als jene am nächsten Tag von ihrer Wallfahrt heimkehrten, und jene vergingen eine Weile in dem Zwiespalt, Gott für die Rettung der Schwestern zu danken und zugleich die Spuren der Verwüstung zu beklagen, die alsbald beseitigt werden sollten: Sämtliche Tore waren eingeschlagen, die Vorratskammern geplündert, die Kirche verwüstet, die Ställe leergeraubt. Einzig die Schlafsäle waren heil geblieben, weil es dort nichts zu holen gab... und auch das Skriptorium mit den Büchern hatte das Interesse der Angreifer nicht auf sich gezogen.
    Ja, es wurde eifrig geklagt. Sobald der erste Schrecken aber ausgestanden war, so befand die Äbtissin Eadhild und teilte es ihren Nonnen mit, sollte nie wieder von dem Ereignis gesprochen werden.
    Bathildis nickte und befand es wie die anderen für richtig, das Grauen hinter sich zu lassen. Nur ganz tief in ihr regte sich Enttäuschung, dass auf diese Weise auch ihre Heldentat unbesprochen bleiben würde, dass niemand mehr sie loben würde, so wie Hereswith es getan hatte. Grausig und nervenzerfetzend war das, was sie hatte erleben müssen, doch rückblickend wurde aus ihrer blanken Furcht ein ehrfürchtiges Beben vor etwas unsagbar Großem, unerträglich, das schon, aber gerade deswegen berauschend. Jene Furcht hatte sie dazu bewegt, über sich hinauszuwachsen. Jetzt freilich schien sie wieder zu schrumpfen, zurechtgestutzt von einem Alltag, der grau und langweilig war und nichtssagend schmecken ließ, was sie früher erfreut hatte.
    Ein einziges Mal nur erwachte etwas von dieser seltsamen Wildheit und
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