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Die Orangen des Präsidenten

Die Orangen des Präsidenten

Titel: Die Orangen des Präsidenten
Autoren: Abbas Khider
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meine Wache für eine kleine Pause. Ich sollte auch diese Nacht auf den Straßen patrouillieren, so lautete der Befehl. Nach dem Abendessen saß ich mit Jasim im Wohnzimmer. Wir tranken Tee und hörten die Nachrichten im Radio. Dem Sprecher von Radio Monte-Carlo wollten wir nicht glauben, dass die irakische Armee tatsächlich schon auf dem Weg zu uns war. Der Tonfall des Berichts klang aber überzeugend und ernst. Onkel Jasim drehte am Senderwahlknopf, richtete die Antenne nach Westen aus und versuchte, eine andere Welle einzufangen. Bestürzt schaute er mich an und konnte den Satz nicht zu Ende sprechen: »Die Medien und ihre Spiele…« Plötzlich begann ein gewaltiges Beben, unter dem die Erde zitterte.
    Es folgten ungeheuer starke Explosionen. Wir hörten nur das Geschrei der Menschen und das Krachen der Raketen und Bomben, die auf die Häuser herabfielen. Erst vereinzelte und dann immer mehr.
    Jasim reagierte schnell, versammelte die Kinder in der Küche und hockte sich mit ihnen auf den Boden. Ich blieb völlig überrascht im Wohnzimmer stehen. Hamida packte mich am Arm und zog mich ebenfalls in die Küche. Sie setzte sich zwischen die Kinder und begann laut Verse aus dem Koran vorzutragen. Sie versuchte, jedes ihrer Kinder an sichzu ziehen und beschützend die Arme um sie zu legen, und schaute Jasim und mich angsterfüllt an.
    »Das ist das Ende!«, flüsterte Jasim mir ins Ohr.
    Ich sagte kein Wort. Blickte zu Boden und blieb stumm. Nach mehreren Detonationen hörte ich draußen ein paar Stimmen: »Gott ist groß, holt eure Gewehre und schützt eure Kinder und Frauen!« Eine andere Stimme quäkte aus dem Lautsprecher: »Alle Aufständischen an die Front! Wir haben die Armee gestoppt. An die Front! Kämpft für euren Gott, euer Land und eure Ehre!«
    Ich legte meine Hand an die Pistole. Doch Jasims Hand legte sich sofort auf meine: »Sei nicht dumm!« Er sah mich ernst an.
    »Sie werden mich umbringen, wenn sie mich festnehmen!«
    »Ich weiß, aber du gehst jetzt nicht an unsere Front, sondern zu den ausländischen Truppen. Sie lagern in der Oase. Am südlichen Rand der Stadt. Du kannst nicht mit einer Waffe umgehen. Und selbst wenn du es könntest, würde es dir nichts helfen. Die haben Raketen, Bomben und eine richtige Armee. Hörst du? Ich höre auch Hubschrauber. Es ist vorbei. Rette wenigstens deine Haut!«
    Jasim gab Hamida ein Zeichen. Sie stand schnell auf, rannte ins Schlafzimmer, kehrte nach ein paar Sekunden zurück und legte mir eine Menge Geldscheine in die Hand. »Nicht viel. Aber du wirst sie brauchen!« Ihre Stimme zitterte und Tränen liefen über ihre Wangen.
    Wortlos stand ich auf, steckte das Geld in die Hosentasche, entsicherte meine Pistole, schaute kurz in die Gesichter, in denen Angst und Verwirrung zu lesen waren, und wollte Jasim umarmen. Er aber klopfte mir mit der Hand auf die Schulter und schob mich zur Tür. »Geh! Kein Abschiedsdrama!« Und klopfte noch einmal, aber fester. »Geh jetzt! Und schau nicht zurück!« Ich drehte mich um, erreichte die Haustür. Öffnete sie vorsichtig und rannte los.

Fünfzehntes Kapitel
Flucht
1991
    Wie ich den Angriff überlebt habe, weiß ich selbst nicht so genau. Ich erinnere mich nur, dass ich panisch gerannt bin. Der dunkle Himmel, vom Licht der Sterne, des Mondes, der Leuchtfeuer und der Hubschrauberscheinwerfer durchflutet, ließ Raketen und Bomben, Feuer und Rauch regnen. Eingestürzte Häuser umklammerten die Erde und pressten sie zusammen. Schreie aus allen Himmelsrichtungen. Schluchzende Frauen, die vor ihren Toten kauerten, sich ins Gesicht schlugen und wehklagten. Die Menschenmasse taumelte wirr in alle Richtungen, Kinder, Frauen und Männer. Einige stürzten getroffen zu Boden.
    Und ich? Rannte weiter. Mein Herz pochte wie ein Trommelwirbel. Im Kopf nur den Vorsatz, die Oase zu erreichen. Keine Ahnung, wie lange es gedauert hatte, bis ich an den südlichen Rand der Stadt gelangt war. Eine Stunde vielleicht? Mehr? Oder doch weniger?
    Als ich mich unter einem Baum niederließ, entdeckte ich Scharen von Menschen. Hunderte, die Richtung Süden marschierten. Einige waren verletzt und wurden getragen. Andere hatten Megafone in der Hand, liefen am Rande der Menge entlang und riefen: »Weiter! Nicht stehen bleiben. Weiter!« Trotzdem blieb ich auf meinem Platz sitzen. Ich war erschöpft, konnte kaum mehr richtig atmen und starrte fassungslos auf das allgemeine Chaos. Die Stadt in der Ferne brannte. Immer noch schlugen Raketen ein. Immer noch
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