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Die Nachzüglerin (German Edition)

Die Nachzüglerin (German Edition)

Titel: Die Nachzüglerin (German Edition)
Autoren: Regine Sondermann
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öffnete
meine Augen und war plötzlich wieder im
Aussiedlerheim und sah eine der Plastikpuppen, denen
Asja ein Ballkleid gehäkelt hatte. Ich wollte mich nicht
in ihrem Bett mit Alexej küssen, während sie im
Krankenhaus lag und starb. So lief ich zur
Straßenbahn, obwohl ich schwach auf den Beinen war.
Jedes der Beine funktionierte einzeln für sich, und
dazwischen war eine taube Mulde. Die Straßenbahn
war rot angemalt und mit riesigen Coca-ColaSchriftzügen überklebt. Ich setzte mich schief auf
meinen Sitz. Die Straßenbahn fuhr durch ein Altbauviertel. Ein paar Häuser wurden renoviert. An einer
frisch gestrichenen Hauswand stand: "Haut dem NaziPack eins in den Sack." Ich fragte mich, ob die
Konstruktion ein Komma verlangte. Eine junge Frau,
die ein Kind auf dem Arm trug, setzte sich neben
einen Afrikaner. Als er es anlächelte, fing das Kind laut
an zu schreien. Eine andere Frau fasste sich ein Herz
und tadelte die Mutter: "Sie dürfen sich da nicht
hinsetzen, da kriegt der Kleine doch Angst." Die junge
Frau blieb trotzig sitzen. "Er ist doch nur müde",
entschuldigte sie sich bei dem Mann, der den Kopf
schüttelte. "Er ist mich nicht gewöhnt." Er stand auf
und suchte sich einen anderen Sitzplatz, wo ihn das
Kind nicht sehen konnte. Ich wollte aus meiner
weißen Haut heraus in eine schwarze Haut schlüpfen.
Ich würde dem Kind zeigen, wie wir früher immer das
Spiel mit der schwarzen Köchin gespielt haben und
wie sie beim dritten Mal den Kopf verlor. "Du bist
dumm", schnauzte die Frau ihren Jungen an. Die
anderen Fahrgäste glotzten doof. Wie konnte ich
anders aussehen? Ich schloss die Augen, um mich von
ihnen zu unterscheiden, denn ich war so weiß wie sie.
Doch mit geschlossenen Augen musste ich an Alexej
und seine neue Schwiegermutter denken, die vielleicht
nicht mehr am Leben war.
KAPITEL 11
    Die Kälte kletterte mir unter den Hosenbeinen hoch
zwischen Haut und Stoff. Ich starrte in das
nachmittägliche Dunkel wie auf die Mauer eines
verfeindeten Gebietes. Das Weihnachtsfest stand
unerbittlich bevor. Panzer wollte ich auffahren lassen
gegen die geschmückten Christbäume, ohne darauf zu
achten, ob sie mit Lametta oder roten Schleifen
verziert waren. Maschinengewehrsalven wollte ich auf
den Lichterschmuck in der Innenstadt ballern,
Weihnachtsgänse befreien aus den polnischen Kriegsgefangenenbatterien, den Kindern die Schokolade und
die Plätzchen entreißen, ganze Schiffe davon
befrachten und wegschicken. Ich wollte den Engeln
die Mäuler stopfen und die Flügel ausreißen, den
Hirten die Stäbe zerbrechen, Ochs und Esel in die
Wüste schicken.
Als ich zehn Jahre alt war, konnte ich mich noch
freuen. Und wie. Meine Eltern arbeiteten beide im
Krankenhaus. Sie wussten nicht, was sie mit mir
machen sollten, also durfte ich mit meinem Vater
mitkommen. "Ich will aber zu Mama", schrie ich,
obwohl ich genau wusste, dass ich nicht mit ihr in den
Operationssaal gehen durfte, weil ich nicht zusehen
durfte, wie sie mit Messern, Scheren und Pinzetten
hantierte, so schnell, dass einem davon schwindlig
werden konnte. Die Hemden der Patienten waren
ebenso weiß wie der Kittel meines Vaters, aber ihre
Rücken und Hintern waren blank. Ich starrte auf die
bräunliche oder blutige Flüssigkeit, die sie an
durchsichtigen Schläuchen in ebenso durchsichtigen
Beuteln schwenkten. Die Hände an die Hosenhaut,
wenn der Doktor kam. Mein Papa befahl mir, die
Stühle im Kreis aufzustellen. Jeden einzelnen führte er
auf seinen Platz, achtete darauf, dass die Katheder und
Infusionsschläuche nicht durcheinandergerieten. Mehr
als mir lieb war, konnte ich hinter die Hemden gucken.
Niemand schämte sich vor mir. Als alle Stühle besetzt
waren, wurden die bettlägerigen Kranken in die zweite
Reihe geschoben. Es war eine endlose Prozedur. Ich
wollte nach Hause und meine Geschenke bekommen.
Als alle versammelt waren, nahm mein Vater die
Gitarre, stellte ein Bein auf meinen Stuhl und
schmetterte "Ihr Kinderlein kommet." Die Patienten
um mich herum brummten und schnieften. Ich weiß
nicht, wer mir den Lebkuchen gegeben hatte. Ich weiß
nur, dass ich ihn in meiner Hand zerdrückte. Mein
Vater las eine Geschichte vor. Alle Welt sollte
geschätzet werden. Ich wusste nicht, was "schätzen"
sein sollte. Das klang wie "schänden", und das war auf
jeden Fall noch schlimmer, was immer es heißen sollte.
Ich war eifersüchtig auf das Jesuskind, um das ein
solches Theater veranstaltet wurde. Ich traute mich
nicht aufzustehen und den Lebkuchen
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