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Die Nacht am Strand: Roman (German Edition)

Die Nacht am Strand: Roman (German Edition)

Titel: Die Nacht am Strand: Roman (German Edition)
Autoren: Anita Shreve
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den Händen, spannt es geschickt und macht einen
zweiten, perfekten Umschlag. Er faltet es immer wieder, bis es auf die Größe einer
Flagge geschrumpft ist, die einer Soldatenwitwe überreicht wird.
    »Haben Sie Lust, sich in die Brandung zu werfen?«, fragt er.
    Sydney ist verwirrt. Meint er Brandungsangeln? Meint er Surfen mit oder
ohne Brett?
    »Gern«, antwortet sie.
    »Ziehen Sie Ihre Kleider über Ihren Badeanzug. Meine Mutter hasst es,
wenn wir das tun.«
    Sydney geht nach oben in ihr Zimmer, eine kleine Kammer mit himmelblauer
Röschentapete und weiß lackierten Fensterrahmen und Möbeln. Bei Tag kann sie vom
einzigen Fenster aus das Meer sehen. Wenn sie sich auf eines der beiden Betten setzt,
um zu lesen, was sie häufig am späten Nachmittag tut (und die Edwards in dem Glauben
lässt, sie mache ein Schläfchen), bietet sich ihr ein Blick wie von einem Ozeandampfer.
Auf dem Mittelsims des Fensters steht eine hohe kobaltblaue Flasche mit einer Möwenfeder
darin. Auf einer Seite des Fensters ist ein rot gestrichener Stuhl, und ein Stück
weiter sind zwei nicht besonders tiefe Schränke. Sydney hat sich über die beiden
nebeneinanderstehenden Schränke Gedanken gemacht und keine befriedigende Erklärung
gefunden. Einer für Straßenkleidung, der andere für Freizeitkleidung? Einer für
Kleider, der andere für Nachthemden? Einer für sie, der andere für ihn?
    Sydney mag ihr Zimmer, findet es für den Moment genau richtig. Es erinnert
sie an alte Fotografien von Krankenhauszimmern mit Frauen in gestärkten Flügelhauben
und Schürzen, die sich um Patienten in Betten mit stramm gespannten Leintüchern
kümmern.
    Sie schüttelt den Sand aus ihrem schwarzen Badeanzug in den Papierkorb.
Sie zieht den Anzug an und darüber die Bluse und die Shorts, die sie beim Essen
anhatte. Sie schiebt die Füße in ihre Flip-Flops und geht nach unten, lässt ihre
Ankunft vom Schlappen ihrer Schuhe ankündigen. Alle haben sich auf der Veranda versammelt,
die meisten mit Tellern in der Hand. Gabeln werden zum Mund geführt. Jeff und Ben,
die den Nachtisch ausgeschlagen haben, stehen ans Geländer gelehnt.
    »Wir haben uns gedacht, wir machen noch einen Spaziergang mit Sydney«,
bemerkt Ben.
    Mrs. Edwards dreht sich herum und sieht Sydney an, vielleicht ahnt sie
etwas Verbotenes hinter Bens Bemerkung, so unschuldig sie auch vorgebracht wurde.
Sie macht den Mund auf und wieder zu. Vielleicht wollte sie Sydney fragen, ob sie
mit dem Abwasch fertig ist.
    »Nehmt eine Taschenlampe mit«, sagt Mr. Edwards.
    Ben hält eine MagLite hoch, die schwer genug ist, um damit jemandem den
Schädel einzuschlagen.
    Auf dem Weg über die Planken und die Treppe hinunter knipst Ben die Lampe
an, aber danach macht er sie aus.
    »Am besten, man wartet, bis das Auge sich eingestellt hat«, sagt er.
»Lassen Sie Ihre Schuhe hier.«
    Sydney streift die Flip-Flops ab und stellt sie auf die unterste Treppenstufe.
Als wäre es so vereinbart, geht sie zwischen den Brüdern. Das »Verbotene« beginnt
sich zu entfalten, und das setzt bei Sydney ein Gefühl frei, das an Übermut grenzt.
Jeden Moment, so scheint es, wird einer der Brüder loslaufen und den anderen zu
einem Rennen herausfordern.
    Sie gehen den Strand hinunter, der Sand kühl unter ihren Füßen. Die Stimmen
auf der Veranda werden sofort leiser, vom Rauschen der Brandung gedämpft. Sydney
beobachtet ihre Beine, deren Bewegung mit den weiter ausholenden Schritten der Brüder
nicht harmoniert. Am Himmel ein Halbmond, ein paar Lichter aus den Häusern am Strand.
    »Wenn Ihre Augen sich eingestellt haben, können Sie die Brandung erkennen«,
sagt Jeff.
    »Machen Sie beide das oft?«, fragt sie.
    »Es ist so eine Art Ankunftsritual am ersten Abend«, antwortet Ben.
    »Auch wenn es regnet? Oder richtig kalt ist?«
    »Das Entscheidende ist, dass man sich mit den Füßen fest verankert, wenn
man steht«, erklärt Jeff. »Dann kann man die Richtung der Widersee spüren.«
    »Sie werden staunen, wie gut Sie sehen können«, fügt Ben hinzu.
    Sydney bleibt gar nichts anderes übrig, als ihm zu glauben. Einmal ist
sie schon auf etwas Spitzes getreten, dem sie bei Tageslicht vielleicht aus dem
Weg hätte gehen können. Aber vielleicht hat er recht, sie kann tatsächlich einen
weißen Streifen erkennen, der sich den Strand entlangzieht.
    »Wir lassen unsere Sachen hier«, sagt Ben, der plötzlich stehen bleibt.
»Es ist Flut.«
    »Und wie findet man sie hinterher wieder?«, erkundigt sich Sydney.
    Neben sich kann
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