Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Die Mondrose

Die Mondrose

Titel: Die Mondrose
Autoren: Anna Helmin
Vom Netzwerk:
erwiderte Nettlewood und kratzte sich an einem. »Er sprach Deutsch, als er auf den Vorarbeiter losging.«
    Hector vergaß es immer wieder – die Eule von Buchhalter war der reinste Polyglott. »Jetzt erzählen Sie mir bloß noch, Sie haben verstanden, was der Anfall von Tobsucht zum Inhalt hatte?«
    »Sie meinen, ich soll Ihnen darlegen, was der Mann gesagt hat?«
    »In der Tat, Nettlewood.« Unten befahl ein Aufseher Einhalt und ließ den Mann, der böse zugerichtet war, auf die Füße zerren.
    »Er hat gesagt: Du schlägst mich nicht, du Drecksmann. Mich schlägt auf der Welt kein Mensch mehr, oder ich mach euch tot.«
    Ich hab’s dir angesehen, Bürschlein. Die Mordswut, die in dir brodelt, und du ahnst nicht, wie gern ich wüsste, woher du die hast. Von dem Aufruhr, mit dem deutsche Arbeiter ihre Obrigkeit das Fürchten lehrten, war allerorts die Rede, aber mit eigenen Augen sah er einen solchen Mann zum ersten Mal. Der gebeutelte Aufseher wimmerte noch immer vor sich hin. Sein Kollege versetzte dem Deutschen eine Ohrfeige. Der tat zu Hectors Vergnügen just, was er erwartet hatte, schnappte nach der schlagenden Hand und erwischte die Fingerspitzen mit den Zähnen.
    Der Aufseher schrie vor Schmerz. »Jetzt reicht’s!«, brüllte er. »Bringt den Satan auf die Wache, der ist ja gemeingefährlich.«
    Die beiden Navvies rissen ihn in Richtung Hang, aber der Deutsche rührte sich nicht. Die Aufseher winkten weitere herbei, von denen einer den Einfall hatte, die Brust des Mannes wie bei einem Schlachttier zu umwickeln und vereint an den Seilenden zu zerren. Der Deutsche sträubte sich, doch es half nichts. Er musste klein beigeben und hinter ihnen hertrotten, wenn er nicht geschleift werden wollte.
    Sie würden ihn ins Gefängnis von Marshalsea werfen, wo ihm noch mehr Prügel und eine völlig überhöhte Haftstrafe blühten. Er würde abmagern, diese freche, rohe Schönheit verlieren, und wenn er irgendwann auf freien Fuß kam, gab es nur noch das Arbeitshaus für ihn. Ein Jammer, dachte Hector. Ehe er sich besann, hob er die Hand und rief: »Halt!«
    Sämtliche Aufseher sowie mehrere Navvies wandten die Köpfe. »Guter Mann, was halsen Sie sich den Ärger auf?«, wandte Hector sich an den vorderen. »Überlassen Sie den Burschen mir, es soll Ihr Schaden nicht sein.«
    Er zog seinen Hut und deutete eine Verbeugung an. »Gestatten, Hector Weaver.«
    Das wäre nicht nötig gewesen. Die Weaver’sche Holzhandlung kannte in Southsea jedes Kind. Der Aufseher grunzte. »Was wollen Sie mit dem Galgenstrick? Darauf, dass der da, wo er herkommt, Ärger gemacht hat, wette ich meinen Hintern.«
    Hector schenkte ihm ein Schmunzeln. »Behalten Sie das gute Stück. Und Ihren Galgenstrick lassen Sie meine Sorge sein, ich finde schon Verwendung für ihn.« Während er Kleingeld aus der Innentasche seiner Weste fischte, befahl der Aufseher den Navvies, den Deutschen zu ihm hochzuhieven. Was für ein Coup! Zwar war Sklaverei in Britannien inzwischen verboten, aber ein Mann kaufte sich noch immer leichter als ein Paar Mastgänse.
    Selig sah er den Hünen durch den Schlamm stapfen. Aus der Nähe kamen die Muskeln von Schenkeln und Schultern zur Geltung und spannten den feuchten Kleiderstoff. Der Bursche war blutjung. Trotz der Narben, trotz der verbissenen Lippen haftete ihm etwas Unversehrtes an, das Hector seltsam berührte. Ein Rippenstoß schreckte ihn auf. Über den Rand der Brillengläser stierten Nettlewoods Eulenaugen ihn an. »Und was, wenn die Frage gestattet ist, fangen wir mit dem Menschenkind nun an?«
    Hector lächelte. »Vorerst kommt er mir als Eintreiber für meine Mietpension gelegen.«
    Bevor der Buchhalter etwas erwidern konnte, blieb der Zug vor ihnen stehen. So dicht, dass Hector den Deutschen atmen hörte. Tapfer hielt der Mann seinem Blick stand, die Augen wie helles Bier und voller Funken. »Fein«, sagte er und klopfte dem Gefesselten auf die Schulter. »Sprechen Sie unsere Sprache, junger Mann?«
    Die hellen Augen blitzten, ehe er mit Überwindung nickte.
    »Fein«, wiederholte Hector. »Los, nehmt ihm den Strick ab, wir sind ja nicht auf dem Schweinemarkt. Und was uns betrifft, mein Freund – haben wir wohl einen Namen, und darf ich den erfahren?«
    »Ob Sie einen haben, weiß ich nicht«, gab der Deutsche in hartem, aber fehlerfreiem Englisch zurück. »Ich heiße Victor März.«
    Victor, der Sieger. Hector und Victor. Der regnerische Tag schien zu leuchten. Noch einmal klopfte Hector dem Deutschen auf
Vom Netzwerk:

Weitere Kostenlose Bücher