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Die Medica von Bologna / Roman

Die Medica von Bologna / Roman

Titel: Die Medica von Bologna / Roman
Autoren: Wolf Serno
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Einzige, was ich sah, war das eben Erlebte. Ich hatte etwas getan, das nicht recht war, und ich hatte es genossen. Vielleicht hatte ich es getan, weil ich es nur dieses eine Mal tun wollte und danach niemals wieder? War es so? Ich wusste es nicht. Ich wusste überhaupt nichts mehr. Nur eines war klar: Ich musste Latif meine Verfehlung beichten. Unbedingt. Das war ich ihm schuldig.
    Ich seufzte. Steh auf!, sagte ich mir. Steh sofort auf und geh zu ihm hinüber! Doch ich blieb liegen. Was sollte ich ihm auch sagen? Die Wahrheit? Die Wahrheit war, dass ich es gewollt hatte, sonst hätte ich es nicht geschehen lassen. Aber was bedeutete das für die Zukunft? Für Sebastianos und meine Zukunft? Für Latifs und meine Zukunft? Latif … Ob er mich auch gern einmal so geküsst hätte? Und ich? Hätte ich ihn gern einmal so geküsst?
    Ich schüttelte den Kopf. Ich wusste keine Antwort. Ich setzte mich auf und richtete mir mit den Händen die Haare. Es war so weit. Ich wollte zu ihm hinübergehen.
    »Herrin?« Latif stand unverhofft vor mir. Er trug ein Bündel in der Hand. Es war das Bündel, das er schon einmal geschnürt hatte, um mit mir nach Bologna zurückzugehen.
    »Latif, ich muss dir etwas sagen …«
    »Ihr braucht mir nichts zu sagen, Herrin.« Seine Stimme war tonlos. »Es ist vorbei. Jahrelang habe ich kein Wort darüber verloren, dass Ihr Euch mit dem frommen Mann, der gar nicht fromm ist, getroffen habt. Aber jetzt ist es vorbei.«
    »Was meinst du damit?« Ich ging einen Schritt auf Latif zu und streckte die Arme aus. Doch er wich zurück. »Ich habe Euch beobachtet, Herrin. Euch und diesen Priester.«
    »Du hast …?«
    »Ich bin Euch gefolgt, ich gebe es zu. Ich wollte wissen, was geschieht, wenn Ihr Eure Zeit nicht mit mir teilt, sondern mit ihm, und ich habe es gesehen. Es hat mir genügt. Ihr habt mir sehr weh getan, Herrin, mehr, als ich zu sagen vermag. Ich werde Euch verlassen.«
    »Das ist unmöglich«, sagte ich ungläubig. »Latif, du musst bleiben!«
    »Nein, Herrin, ich gehe fort. Ihr habt meinen Stolz zu sehr verletzt. Ich dachte immer, ich wäre Euer Mann, ich meine, wenigstens ein bisschen, und dieses bisschen hat mir genügt. Doch jetzt ist es vorbei. Ich habe meinen Stolz, und mein Stolz befiehlt mir fortzugehen. Ich habe alles, was mir gehört, an mich genommen. Es ist nicht viel, wie Ihr wisst. Lebt wohl. Möge Allah, der Allessehende, der Weltenlenker, ein Auge auf Euch haben.«
    »Latif, bitte, bleib!«
    »Lebt wohl, Herrin.«
    Er drehte sich um, aber ich riss ihn zurück. »Du musst hierbleiben! Ich befehle es dir! Du bist mein Diener!«
    Er blickte mich unendlich traurig an. »Ich bin nicht mehr dein Diener, Carla. Denn du brauchst mich nicht mehr. Du hast einen anderen gefunden.«
    »Latif, denk doch an das, was wir alles zusammen erlebt haben! Bleib, bleib, bleib!«
    »As-salamu alaikum.«
Er verbeugte sich und ging, und diesmal ließ ich es geschehen, denn ich spürte, dass es aussichtlos war, ihn daran hindern zu wollen.
    Ich sank zurück aufs Bett und vergrub das Gesicht in meinen Händen. Erst spät kamen mir die Tränen, doch als sie kamen, flossen sie ohne Unterlass, und ich keuchte und jammerte wie ein geschundenes Tier.
    Ein Leben ohne Latif konnte ich mir nicht vorstellen.
     
    Es dauerte mehrere Tage, bis ich begriff, dass Latif tatsächlich fort war. Ich wanderte durch seine Höhle und betrachtete, was er zurückgelassen hatte. Alles sah aus wie immer, aber alles war anders. Denn Latif hatte mich verlassen. Die Verzweiflung, die Ohnmacht, die Leere, die in mir war, wich einem dauerhaften Schmerz, der tief in mein Herz schnitt. Ich wusste, dass ich den Schmerz für immer spüren würde, und ich wusste auch, dass ich ihn verdient hatte.
    Tage und Nächte strichen an mir vorüber, ohne dass ich ihrer gewahr wurde. Nur langsam fasste ich wieder im Alltag Fuß. Doch immer wieder ertappte ich mich dabei, wie ich mit Latif sprach: »Ich will nachher noch Käse machen, vielleicht diesmal mit Thymian«, hörte ich mich sagen, oder: »Die Pflugschar müsste wieder einmal geschärft werden.« Und jedes Mal, wenn ich keine Antwort bekam, schossen mir die Tränen in die Augen.
    Ich suchte Trost in der Berührung meiner Venusmaske, setzte sie auf wie früher – und nahm sie wieder ab. Sie erinnerte mich zu sehr an Latif. Um dennoch auf andere Gedanken zu kommen, versuchte ich zu lesen. Anfangs gelang es mir nicht, denn ich erfasste nur die Buchstaben, nicht aber den Sinn, den sie
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