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Die kleine Schwester

Die kleine Schwester

Titel: Die kleine Schwester
Autoren: Raymond Chandler
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streckte sich aus; eine schöne Angst, wie von einer Mutter, die ein verlorenes Kind begrüßt, lag in dieser Bewegung.
    Ich zog es aus seiner Reichweite und sagte: »Sind Sie der Verwalter?«
    Er leckte sich die trockenen Lippen und sagte »Gr-r-r-r.«
    Er versuchte das Glas zu erhaschen. Ich stellte es vor ihn auf den Tisch. Er packte es vorsichtig mit beiden Händen und schüttete den Gin in sich hinein. Dann lachte er herzhaft und schmiß mit dem Glas nach mir. Ich fing es irgendwie auf und stellte es wieder richtig auf den Tisch. Der Mann betrachtete mich von oben bis unten und probierte es - erfolglos - mit einem strengen Blick.
    »Wassis?« krähte er mit ärgerlichem Ton.
    »Verwalter?«
    Er nickte und fiel fast von der Couch. »Bin wohl ein bißchen besauft«, sagte er.
    »Irgendwie 'n bißchen klein bissen besauft.«
    »Es geht«, sagte ich. »Sie atmen noch.«
    Er stellte seine Füße auf den Boden und stemmte sich aufrecht. Er gackerte mit plötzlichem Vergnügen, machte drei unsichere Schritte, sank nieder auf seine Hände und Füße und versuchte ein Stuhlbein zu beißen.
    Ich zog ihn wieder auf seine Füße, setzte ihn in den stark gepolsterten Sessel mit der verbrannten Lehne und goß ihm noch einen Schuß von seiner Medizin ein. Er trank sie, schüttelte sich heftig, und auf einmal schienen seine Augen vernünftig zu werden - und schlau. Solche Trinker haben einen gewissen Augenblick des Gleichgewichts, einen Augenblick für die Wirklichkeit. Man weiß nie, wann er kommt und wie lang er dauert.
    »Wer sind Sie, zum Teufel?« knurrte er.
    »Ich suche einen Mann namens Orrin P. Quest.«
    »Hä?«
    Ich sagte es noch mal. Er wischte sich übers Gesicht mit seinen Händen und sagte lakonisch: »Ausgezogen.«
    »Wann ausgezogen?«
    Er wedelte mit der Hand, fiel fast aus seinem Sessel und wedelte mit der anderen Hand, um wieder ins Gleichgewicht zu kommen. »Gib mir einen Schnaps«, sagte er.
    Ich goß noch mal einen Schuß Gin ein und hielt ihn außerhalb seiner Reichweite.
    »Gib her«, sagte der Mann dringlich, »mir geht's nicht gut.«
    »Ich will nur wissen, wo Orrin P. Quest jetzt wohnt.«
    »Sieh mal einer an«, sagte er humorvoll und machte einen schwächlichen Versuch, das Glas zu erreichen, das ich hielt.
    Ich setzte das Glas auf den Boden und holte eine von meinen Geschäftskarten für ihn raus. »Vielleicht hilft Ihnen das beim Nachdenken«, sagte ich zu ihm.
    Er betrachtete die Karte genau, verzog sein Gesicht, knickte sie einmal und knickte sie noch mal. Er legte sie auf den Handteller, spuckte drauf und warf sie über seine Schulter.
    Ich reichte ihm das Glas Gin. Er trank mir zu, nickte würdevoll und warf auch das Glas über seine Schulter. Es rollte über den Boden und bumste an die Wandleiste. Der Mann erhob sich mit überraschender Leichtigkeit, stieß den Daumen in Richtung auf die Decke, bog die Finger darunter zusammen und machte ein scharfes Geräusch mit Zähnen und Zunge.
    »Hau ab«, sagte er. »Ich habe Freunde.« Er sah auf das Telefon an der Wand, dann wieder listig auf mich. »Ein paar jungen, die es dir besorgen werden«, sagte er höhnisch. Ich sagte nichts. »Glaubstu nicht, was?« knurrte er, plötzlich verärgert. Ich schüttelte den Kopf.
    Er ging auf das Telefon los, klaubte den Hörer vom Haken und wählte die fünf Zahlen einer Nummer. Ich sah ihm zu. Eins-drei-fünf-sieben-zwei.
    Damit war seine Kraft für diesmal erschöpft. Er ließ den Hörer fallen und gegen die Wand knallen und setzte sich auf den Boden daneben. Er holte ihn ans Ohr und knurrte zur Wand: »Gimmir mal Doc.« Ich lauschte still. »Vince! Den Doktor!« rief er ärgerlich.
    Er schüttelte den Hörer und schleuderte ihn fort. Er ging mit den Händen zu Boden und fing an, im Kreis herum zu kriechen. Als er mich bemerkte, schien er erstaunt und verärgert. Er rappelte sich wieder auf seine Füße und streckte die Hand aus. »Gib was zu trinken.«
    Ich holte mir das runtergefallene Glas und leerte die Ginflasche hinein. Er nahm es in Empfang, würdevoll wie eine trunkene Matrone, trank es aus - mit einem heiteren Schwung -, wanderte dann ruhig zur Couch rüber und legte sich hin; das Glas legte er als Kissen unter den Kopf. Er schlief sofort ein.
    Ich hängte den Telefonhörer wieder an seinen Haken, warf noch mal einen kurzen Blick in die Küche, befühlte den Mann auf der Couch und holte einige Schlüssel aus seiner Tasche. Einer davon war ein Hauptschlüssel. Die Tür zum Hausflur hatte ein
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