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Die Hüter der Schatten

Die Hüter der Schatten

Titel: Die Hüter der Schatten
Autoren: Marion Zimmer-Bradley
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daß sie diese Tatsache bislang noch gar nicht in ihrer ganzen Tragweite begriffen hatte. Die Hand auf den Türrahmen gelegt, versuchte sie noch einmal mit aller Kraft, ihre Sinne ins Innere des Ateliers vordringen zu lassen.
    Chrissy hatte bei Simons Anblick geschrien, hatte die Schokolade zu Boden geschleudert, die er ihr gereicht hatte, und war darauf herumgetrampelt … die einzige zielbewußte Handlung, die Leslie je bei dem Mädchen erlebt hatte.
    Alison … Hatte die alte Frau tatsächlich versucht, sie vor Simon zu warnen? Leslie ließ die Episoden, die sich in diesem Haus abgespielt hatten, noch einmal Revue passieren. Eines war gewiß: Alison hatte versucht, ihre Aufmerksamkeit auf sich zu ziehen. Das Unsichtbare streckt die Hand aus … Ja, das war eine gute Umschreibung der Erlebnisse in diesem Haus, der häßlichen Streiche gegen Simon, der Zerstörung seines Cembalos. War es reine Bosheit Alisons gewesen? Rache an ihrem treulosen Schüler? Oder eine Warnung an Leslie?
    Mit schweren Schritten ging Leslie ins Haus zurück. Nach kurzem Überlegen hob sie den Telefonhörer ab und wählte die Nummer von Simons Wohnung, legte jedoch wieder auf, ehe er an den Apparat gehen konnte. Was hätte sie ihm auch sagen sollen?
    Ach, übrigens, Simon, ist Christina Hamilton zufällig bei dir? Du weißt schon, das kleine Mädchen mit dem Hirnschaden, von dem du gesagt hast, es sei ›lebensunwert‹. Bist du gerade dabei, diesen Fehler in Gottes Ratschluß auszubügeln?
    Allein der Gedanke war unvorstellbar. Eine solche Frage konnte man einem Menschen, den man liebte, nicht stellen.
    Simon. Der sanftmütige Mann. Der zärtliche, leidenschaftliche Liebhaber. Der gequälte Künstler, leidend an Körper und Geist, weil seine Karriere zerstört worden war. Wer war Simon wirklich? Der Mann, der über Leichen ging und bekannte, daß er Schwarze Magie gewirkt hatte, um Heilung für seine zerschmetterte Hand und sein zerstörtes Auge zu finden? Der väterliche Freund, der mit Emily scherzte und sie mit Geschenken überhäufte? Simon besaß ein Dutzend Persönlichkeiten, und eine davon mochte in einem Moment des Wahnsinns oder der Verzweiflung Chrissy entführt haben. Und was Leslie am meisten Angst einjagte: Sie liebte ihn deswegen nicht weniger …
    Aber sie würde nicht zulassen, daß es so weiterging. Sie würde alles tun, Simon und Chrissy zu finden, ehe er dem kleinen Mädchen etwas antun konnte. Seinen ersten Mord – falls er wirklich geschehen und nicht das Phantasieprodukt einer gequälten Seele gewesen war – hatte Simon wahrscheinlich in dem an Wahnsinn grenzenden Schockzustand begangen, den seine Verstümmelung ausgelöst hatte. Diesmal aber war er bei klarem Verstand, und wenn er das kleine Mädchen ermordete, würde er mit der Höchststrafe dafür büßen, falls Leslie ihn nicht rechtzeitig aufhielt.
    Wohin hatte er Chrissy gebracht? Es gab viele Möglichkeiten. Das Gebäude dieser seltsamen Loge, zu deren Sitzung er Emily mitgenommen hatte. Seine Wohnung. Ein nur zu diesem Zweck angelegtes Versteck.
    Leslie beschloß, den einzigen ihr bekannten Ort zu überprüfen, der in Betracht kam: Simons Wohnung.
    Sie sprang in ihren Wagen und drehte hastig den Zündschlüssel. Hinter einem quälend langsamen Oberleitungsbus fuhr sie die Haight Street hinauf und bog dann in die Straßen ab, die hügelaufwärts nach Twin Peaks führten. Sie mußte in den zweiten, dann sogar in den ersten Gang zurückschalten; inzwischen hatte sie sich an Simons Mercedes gewöhnt, dessen PS-starker Motor die gesamte Steigung im dritten Gang bewältigte. Vor Simons Wohnung angelangt, ließ sie den Wagen auf der Straße stehen, denn der Parkwächter kannte sie inzwischen und hätte darauf bestanden, sie bei Simon anzumelden. Und wenn Simon tatsächlich Chrissy bei sich hatte, wollte, mußte Leslie ihn überraschen.
    Doch schon als sie den Schlüssel im Schloß drehte, spürte sie, daß die Wohnung leer war. Sie trat ein, schloß die Tür hinter sich und rief: »Simon?« Aber sie wußte, daß sie keine Antwort erhalten würde. Sie hörte ihre Stimme durch die Zimmer hallen, wartete, rief noch einmal.
    Dann durchsuchte sie die Wohnung: Wandschränke, Badezimmer, den stillen großen Raum, in dem der Baldwin-Flügel und das Cembalo stumm und mit geschlossenem Deckel standen, die Küche, das große Wohnzimmer. Über dem Altar im Schlafzimmer schwebte ein scharfer, bitterer Weihrauchduft, den Leslie noch nie wahrgenommen hatte.
    Ein besonderes
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