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Die Hassliste: Roman (German Edition)

Die Hassliste: Roman (German Edition)

Titel: Die Hassliste: Roman (German Edition)
Autoren: Jennifer Brown
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einen halben Meter Abstand zwischen Mom und mir und ich müsste mir jeden Morgen ihre Kommentare über meine »grauenhaften Haare« und meinen Rock anhören, den sie immer »viel zu kurz« fand, und dazu diesen ewig gleichen Satz: »Ich versteh einfach nicht, wie sich ein so hübsches Mädchen wie du so hässlich machen kann durch dieses furchtbare Make-up und die gefärbten Haare.« Da war es mir lieber, am Straßenrand zu stehen und auf den Schulbus zu warten, auch wenn der voller Großmäuler war, die es auf mich abgesehen hatten. Und das will echt was heißen.
    Ich sah auf die Uhr am Herd. Gleich würde der Bus kommen. Ich schulterte meinen Rucksack und biss noch mal in meine Waffel.
    »Ich pack’s dann«, sagte ich und steuerte Richtung Tür. »Viel Glück für Geschichte.«
    »Bis dann«, rief er meinem Rücken zu, während ich die Haustür hinter mir zumachte.
    Die Luft war kühl, frischer als sonst – es kam mir so vor, als ob der Winter bevorstünde und nicht die ersten Wochen mit höheren Temperaturen. Als ob dieser Tag nie wärmer werden würde, als er es jetzt war.

 
    [Aus der Garvin County Sun-Tribune, 3.   Mai 2008, von Angela Dash]
     
    Christy Bruter, 16 – Bruter, Spielführerin des Softball-Schulteams, war das erste Opfer. Der Schuss auf sie wurde offenbar gezielt abgefeuert. »Er hat sie an der Schulter angerempelt«, berichtet Amy Bruter, die Mutter des Mädchens. »Und als Christie sich umdrehte, hat er nach Auskunft von ein paar Mitschülerinnen gesagt: ›Du stehst schon ewig lang auf der Liste.‹ Sie fragte: ›Auf welcher Liste?‹, und dann hat er geschossen.« Christy Bruter erlitt einen Bauchschuss und hatte nach Auskunft der Ärzte »enorm viel Glück«, dass sie überlebt hat. Die Ermittlungsbehörden haben bestätigt, dass Christy Bruters Name der erste von Hunderten war, die auf der inzwischen berüchtigten ›Hassliste‹ standen, einem roten Spiralheft, das wenige Stunden nach dem Amoklauf bei Nick Levil zu Hause sichergestellt wurde.
     
    »Bist du nervös?«
    Ich pulte an dem Gummi herum, der sich von meiner Schuhsohle löste, und zuckte mit den Achseln. Durch mich jagten derart viele Gefühle, dass ich am liebsten laut schreiend durch die Straßen gerannt wäre. Trotzdem bekam ich nicht mehr hin als ein Achselzucken. Was im Nachhinein betrachtet wohl sogar gut war. Mom hatte mich an diesem Morgen besonders scharf im Auge. Ein falscher Schritt und sie würde zu Dr.   Hieler rennen und das Ganze wie üblich total aufbauschen, und dann wäre wieder das Grundsatzgespräch fällig.
    Seit Mai hatten Dr.   Hieler und ich dieses Grundsatzgespräch mindestens ein Mal pro Woche geführt. Es lief so ziemlich immer gleich ab.
    Er fragte: »Bist du sicher vor dir selbst?«
    »Ich werd mich jedenfalls nicht umbringen, falls Sie das meinen«, antwortete ich.
    »Ja, das meine ich«, sagte er dann.
    »Na ja, ich tu’s nicht. Mom spinnt bloß«, erwiderte ich daraufhin.
    Aber wenn ich dann später nach Hause kam, legte ich mich jedes Mal in mein Bett und begann, über das Selbstmordthema nachzudenken.
    War ich sicher vor mir selbst? Hatte es womöglich eine Zeit gegeben, in der ich selbstmordgefährdet gewesen war, ohne es selber zu merken? Und dann verbrachte ich, während es in meinem Zimmer nach und nach immer dunkler wurde, Stunden mit der Frage, warum ich verdammt noch mal nicht mit mir selbst klarkam. Die Frage, wer man ist, sollte doch für jeden in der Welt ganz leicht zu beantworten sein, oder? Für mich war die Antwortlange Zeit kein bisschen leicht gewesen. Vielleicht sogar nie.
    Es war total beschissen, ich zu sein in einer Welt, in der meine Eltern sich hassten und mir die Schule wie ein Kriegsschauplatz vorkam. Nick war meine Zuflucht gewesen. Er war der eine Mensch, der mich verstand. Dass es ein »Wir« gab, zu dem ich gehörte, tat mir gut – Gedanken und Gefühle zu teilen und den gleichen Kummer zu haben. Aber jetzt fehlte die andere Hälfte dieses Wir, ich lag allein in meinem schummrigen Zimmer und begriff auf einmal, dass ich nicht die geringste Vorstellung hatte, wie ich jemals wieder einfach nur ich selbst sein sollte.
    Dann drehte ich mich meistens auf die Seite und starrte die schattigen dunklen Pferde auf meiner Tapete an und träumte davon, dass sie übermütig von der Wand springen und mich weit wegbringen würden, so wie ich mir das als Kind vorgestellt hatte, bloß damit ich nicht mehr über alles nachdenken müsste. Keine Ahnung zu haben, wer du bist, tut
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