Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Die Grenze

Die Grenze

Titel: Die Grenze
Autoren: authors_sort
Vom Netzwerk:
Hunde. Letztes Jahr hatte Gailon um ihre Hand angehalten. Er sah auf seine langkinnige Art ganz gut aus, und die Besitzungen seiner Familie in Gronefeld standen nur hinter Südmark selbst zurück, aber sie war doch froh, daß ihr Vater es nicht eilig gehabt hatte, sie zu verheiraten. Sie hatte das sichere Gefühl, daß Gailon Tolly seiner Gemahlin nicht so viel Freiheit lassen würde wie König Olin seiner Tochter — er würde bestimmt dafür sorgen, daß Briony nicht in einem zweigeteilten Rock auf die Jagd zog, rittlings auf dem Pferd wie ein Mann.
    Die Hunde kläfften jetzt noch schriller, und ein Raunen ging durch die auf dem Hügel versammelte Jagdgesellschaft. Briony drehte sich um und sah Bewegung in den Bäumen drunten in der Senke, ein Aufleuchten von Rot und Gold wie Herbstlaub, das in einem reißenden Bach dahinwirbelte. Dann brach etwas aus dem Unterholz, ein mächtiges, schlangenartiges Wesen, das fünf, sechs Herzschläge lang frei sichtbar war, ehe es in hohem Gras verschwand. Die Hunde stürzten bereits hinterher.
    »O Götter!« sagte Briony, von jäher Angst erfaßt, und etliche Leute um sie herum schlugen das Dreifingerzeichen des Trigon auf der Brust. »Das Biest ist ja riesig!« Sie sah Shaso vorwurfsvoll an. »Habt Ihr nicht gesagt, bei so einem reicht ein ordentlicher Schlag auf den Kopf?«
    Selbst der Waffenmeister schien erschrocken. »Der damals ... er war kleiner.«
    Kendrick schüttelte den Kopf. »Das Vieh mißt gut und gern zehn Ellen, oder ich bin ein Skimmer.« Er schrie einem Jagdpagen zu: »Bringt die Saufedern!« und sprengte dann den Hang hinab. Gailon von Gronefeld jagte neben ihm her, und die anderen Edelleute sputeten sich, ihre Plätze in unmittelbarer Nähe des jungen Prinzregenten einzunehmen.
    »Aber ...«, Briony verstummte. Sie wußte nicht, was sie hatte sagen wollen — wozu waren sie denn hier, wenn nicht, um einen Lindwurm zu erlegen? —, aber plötzlich war sie sich ganz sicher, daß Kendrick in Gefahr war, wenn er dem Biest zu nahe kam.
Seit wann bist du ein Orakel oder eine weise Frau,
fragte sie sich. Aber die Angst war sonderbar stark, die Verdichtung von etwas, das sie schon den ganzen Tag beunruhigt hatte wie ein Schatten am Rand ihres Gesichtsfelds. Da war diese seltsame Präsenz der Götter in der Luft, dieses Gefühl, von den Unsichtbaren umgeben zu sein. Vielleicht war es ja gar nicht so, daß Barrick den Tod suchte — vielleicht war ja diese finstere Gottheit, der Erdvater selbst, hinter ihnen her.
    Sie versuchte, den Schauer abzuschütteln.
Dummes Zeug, Briony. Dumme, schwarze Gedanken.
Es mußte an Barricks düsteren Worten über die Gefangenschaft ihres Vaters liegen. Es konnte doch keine Gefahr drohen, an einem solchen Tag, spät im Dekamene, dem zehnten Monat, aber von einer so kräftigen Sonne durchstrahlt, als wäre noch Hochsommer — wie konnten die Götter da zürnen? Die gesamte Jagdgesellschaft folgte jetzt Kendrick. Die Pferde donnerten den Hügel hinab, und die Pagen und Diener rannten aufgeregt schreiend hinterher, und plötzlich wollte sie dort vom sein, bei Kendrick und den anderen Edelleuten, allen Schatten und allen Ängsten davongaloppieren.
    Diesmal werde ich nicht zurückbleiben wie ein kleines Mädchen,
dachte sie.
Ich will den Lindwurm sehen, wie eine richtige Edelfrau.
    Und wenn ich ihn am Ende töte? Nun ja, warum nicht?
    Jedenfalls mußte sie auf ihre beiden Brüder aufpassen. »Los, Barrick«, rief sie. »Keine Zeit zum Trübsalblasen. Wenn wir jetzt nicht losreiten, verpassen wir alles.«

    »Das Mädchen, die Prinzessin — sie heißt doch Briony, oder?« fragte Opalia, nachdem sie fast eine Stunde weitergewandert waren.
    Chert verbarg ein Grinsen. »Sprichst du von den Großwüchsigen? Ich dachte, mit denen sollten wir uns gar nicht befassen.«
    »Mach dich nicht über mich lustig. Mir gefällt es hier gar nicht. Obwohl die Sonne noch hoch steht, hat man das Gefühl, daß es dunkel ist. Und das Gras ist so naß! Das macht mich ganz kribbelig.«
    »Tut mir leid, meine Liebe. Mir gefällt es hier auch nicht besonders, aber am äußersten Rand findet man nun mal die interessanten Dinge. Fast jedes Mal, wenn sich die Schattengrenze zurückzieht, ist da irgendwas Neues. Weißt du noch, dieser faustgroße Edri-Ei-Kristall? Der lag einfach im Gras, wie etwas, das die Flut angeschwemmt hat.«
    »Das alles hier — das ist doch nicht natürlich.«
    »Natürlich ist es nicht natürlich. Nichts an der Schattengrenze ist natürlich.
Vom Netzwerk:

Weitere Kostenlose Bücher