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Die geschwätzigen Kleinode (German Edition)

Die geschwätzigen Kleinode (German Edition)

Titel: Die geschwätzigen Kleinode (German Edition)
Autoren: Denis Diderot
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Mund ihres Kleinods, sie verdanke dem Klosterverwalter den ehrenvollen Namen Mutter. Was aber den Sultan besonders in Erstaunen setzte, war, daß die wohlverwahrten Kleinode sich so unanständig ausdrückten und daß die Jungfrauen, denen sie angehörten, zuhörten, ohne zu erröten. Das brachte ihn auf die Vermutung, daß, wenn man in dieser Einsamkeit auch wenig praktische Übung habe, man doch im theoretischen Wissen sehr gut beschlagen wäre.
    Um sich dessen zu versichern, drehte er seinen Ring gegen eine fünfzehn bis sechzehnjährige Novize. »Flora«, ließ sich ihr Kleinod vernehmen, »hat einen jungen Offizier mehr als einmal durchs Gitter mit dem Glase betrachtet. Ich weiß gewiß, er gefällt ihr. Das sagt mir ihr kleiner Finger.« – Arme Flora! Ihre Vorgesetzten verurteilten sie dafür zu zweimonatlichem Schweigen und Disziplin. Sie ordneten Gebete an, den Himmel zu bewegen, daß er die Kleinode des Stifts verstummen lasse.
    Mangogul hatte sich kaum von den Klosterjungfern entfernt, als das Gerede durch ganz Banza ging, die Nonnen im Stift Coccix-Bramu redeten vermittelst ihrer Kleinode. Husseims gewaltsame Verfügung gab diesem Gerücht Glauben, und die Gelehrten wurden aufmerksam darauf. Die Erscheinung bestätigte sich, und die Freigeister fingen an, durch die Eigenschaften der Materie eine Tatsache erklären zu wollen, von der sie anfangs behauptet hatten, sie sei unmöglich. Das Geschwätz der Kleinode gab Veranlassung zu einer Menge vortrefflicher Aufsätze, und dieser wichtige Gegenstand bereicherte die Schriften der Akademie mit mehreren Abhandlungen, die man als die höchsten Leistungen des menschlichen Verstandes betrachten kann. Die Akademie der Wissenschaften zu Banza zu bilden und zu verewigen, hatte man berufen und berief man noch zu Mitgliedern die vorzüglichsten Gelehrten aus Congo, Monoemugi, Beleguanza und den umliegenden Reichen. Sie umfaßte unter verschiedenen Benennungen die Männer, die sich im Fach der Naturgeschichte, der Naturlehre, der Mathemathik bereits hervorgetan oder Hoffnung gegeben hatten, daß sie sich hervortun würden. Dieser unermüdliche Bienenschwarm arbeitete rastlos, Wahrheiten einzusammeln, und beschenkte das Publikum, jedes Jahr, mit einem Bande Entdeckungen, der die Frucht ihres Fleißes war.
    Sie war damals in zwei Parteien gespalten, die eine stritt für die Wirbel, die andere für die anziehende Kraft. Olibri, ein geschickter Meßkünstler und großer Naturkundiger, stiftete die Sekte der Wirbler. Circino, ein geschickter Naturkundiger und großer Meßkünstler, lehrte zuerst die anziehende Kraft. Olibri und Circino machten sich beide zur Aufgabe, die Natur zu erklären. Olibris Grundsätze haben auf den ersten Anblick etwas verführerisch Einfaches. Sie erklären im allgemeinen die hauptsächlichsten Erscheinungen, widersprechen ihnen aber im besonderen. Circino seinerseits scheint hinwiederum von einer absurden Voraussetzung auszugehn, indessen ist nur der Anfang bei ihm schwer. Die Untersuchung gerade der kleinsten Einzelheiten, die Olibris System über den Haufen wirft, befestigt das seinige. Er führt einen Pfad, der zwar beim ersten Schritt dunkel ist, der sich aber immer mehr erhellt, je weiter man vordringt. Olibris Bahn hingegen ist am Eingang sehr erleuchtet, verfinstert sich jedoch immer mehr. Die Philosophie des letzteren verlangt weniger Studium, als Fassungskraft. Wer ein Schüler des ersteren werden will, muß viel Studium aufwenden und viel Fassungskraft besitzen. Olibris Schule betritt man ohne Vorbereitung, jedermann hat den Schlüssel dazu. Circinos Schule steht nur den ersten Meßkünstlern offen. Olibris Wirbel sind jedem Verstande faßbar. Circinos Schwerkraft ist nur den Algebraisten erster Ordnung verständlich. Also kommen immer hundert Anhänger der Wirbeltheorie auf einen Anhänger der Attraktionslehre, und ein Attraktionär wiegt also immer hundert Wirbler auf. So stand es auch um die Akademie der Wissenschaften von Banza, als sie die Materie der redseligen Kleinode untersuchte.
    Man wußte nicht, wie man der Erscheinung habhaft werden sollte. Sie widersprach der Lehre von der anziehenden Kraft. Der Äther drang dahin nicht. Vergebens forderte der Präsident die Herren Mitglieder auf, ihre Meinungen zu eröffnen; ein tiefes Schweigen herrschte in der Versammlung. Endlich erhob sich der Wirbler Persiflo, der schon eine Menge Abhandlungen über Gegenstände geschrieben hatte, von denen er nichts verstand: »Die Sache, meine
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