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Die Frau aus dem Meer

Die Frau aus dem Meer

Titel: Die Frau aus dem Meer
Autoren: Andrea Camilleri
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zu Ende.
    Und dann fehlte nur noch ein Tag bis zur Begegnung mit Maruzza in Vigàta.
    Am Dienstag, um sieben Uhr in der Frühe, stand Gnazio auf, der die ganze Nacht kein Auge zugetan hatte, vor lauter Kopfschmerzen bei dem Gedanken, welchen Eindruck er wohl am nächsten Tag auf die junge Frau machen würde.
    Sollte er bei ihrem Anblick den Mund zu einem kleinen Lächeln verziehen?
    Oder lieber ein ernstes Gesicht machen?
    Doch wenn er lächelte, sah sie vielleicht seinen abgesplitterten Zahn.
    Und wenn er ein ernstes Gesicht aufsetzte, sah er am Ende so aus wie einer am Totengedenktag.
    Vielleicht wäre es am besten, ein gleichgültiges Gesicht aufzusetzen, vielleicht sogar ein kleines Liedchen dabei zu pfeifen.
    Nein, das ging gar nicht, er kannte ja überhaupt keine Lieder.
    Oder besser gesagt, eines kannte er – eines, das so ging: «Oh, Ihr habt so schöne Brüste,/was macht Ihr damit, was macht Ihr damit …» Aber dieses Lied schien ihm für die Gelegenheit nicht wirklich passend.
    Das einzige Mittel, sich abzulenken, war, das Feld zu bearbeiten. Er hackte den ganzen Vormittag, dann gönnte er sich eine halbe Stunde Pause, um ein wenig Brot und Käse zu essen, dann hackte er weiter. Am Himmel, der schon früh am Morgen bedeckt war, zeigten sich am Nachmittag schwarze, regenträchtige Wolken. Und in der Tat begann es zu regnen, doch nur ganz leicht, sodass Gnazio weiter- arbeitete. Als er aber bei Dunkelheit nach Hause kam, musste er sogar die Unterhose wechseln, weil so viel Wasser in den Kleidern steckte.
    Ihm kam ein Gedanke, der ihn erschreckte: Was, wenn es am nächsten Tag immer noch regnete und Maruzza gar nicht das Haus verlassen konnte? Er aß sein Essen und ging dann mit diesem sorgenvollen Gedanken zu Bett. Und nachher stand er jede Stunde auf und trat ans Fenster. Gegen Mitternacht hörte der Regen auf, doch der Himmel blieb schwarz. Drei Stunden später sah man die ersten Sterne leuchten. Da erst gelang es Gnazio, zwei Stunden zu schlafen.
    Um acht Uhr am nächsten Morgen versorgte er die Tiere, dann wusch er sich, zog seine besten Sachen an, setzte die brandneue braune Schiebermütze auf, nahm sein Maultier und machte sich auf den Weg nach Vigàta.
    Es war schon fast zehn, als er am Barbierladen ankam. Don Ciccio Ferrara brauchte diesmal nur eine Dreiviertelstunde für den Bart und die Haare.
    Und während er im Friseursessel saß, spürte er plötzlich den ersten stechenden Schmerz im Rücken. Er dachte nicht weiter darüber nach, er wusste, dass es die Folge seiner Schufterei im Regen am Vortag war.
    Als er sich aus dem Sessel erhob, hatte er einen weiteren Stich, allerdings nur einen leichten. Der Schneider war zehn Meter vom Barbiersalon entfernt. Dort kam er an, als die Rathausuhr gerade elf Uhr schlug.
    «Ihr müsst mich fünf Minuten entschuldigen», sagte Don Filippo Greco zu ihm, «vor der Anprobe will ich schnell noch das Jackett aufbügeln. Setzt Euch nur!»
    «Nein danke. Ich bleibe lieber draußen und schnappe noch ein bisschen Luft.»
    «Wie Ihr wollt …»
    Da, wo sonst sein Herz saß, war nun eine Lokomotive, die puffte und raste. Die Luft blieb ihm weg. Er fühlte, wie er schweißgebadet war. Ganz sicher war ein Fieber im Anmarsch.
    Und dann sah er plötzlich die beiden Frauen auftauchen, die zusammen die Straße herunterkamen und angeregt miteinander plauderten. Donna Pina mit ihrem gewohnten Sack auf der Schulter und Maruzza …
    Allerheiligste Muttergottes del Carmine! Gebenedeite Santa Lucia! Wundertätiger Calogero! Sie war ja noch viel schöner als auf der Fotografie! Viel schöner! Viel, viel schöner!
    Wie konnte es sein, dass sie die dreißig überschritten hatte, wo sie doch wie eine junge Frau von nicht einmal zwanzig wirkte? Welch ein Zauber lag über ihr? Und dieses herrliche Wunderwesen sollte seine Frau werden?
    Ein Kloß bildete sich in seiner Kehle. Er begriff, dass er zu weinen begann.
    Doch warum sah Maruzza ihn nicht an? Bloß ein einziges Mal wandte sie den Kopf nach ihm um, doch es war, als würde sie nur die Türfassung des Schneidergeschäfts anschauen.
    Kaum waren die beiden Frauen auf seiner Höhe, nahm er die Schiebermütze vom Kopf und machte eine halbe Verbeugung.
    «Bongiorno!»
, erwiderte Donna Pina.
    Maruzza indes, die ihn überhaupt nicht anblickte, senkte ein wenig den Kopf.
    Da bekam Gnazio, der noch in seiner Verbeugung dastand, den dritten Stich in den Rücken, einen richtigen Stich aus dem Hinterhalt, und zwar dermaßen stark, dermaßen
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