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Die Formel des Lebens: Von der Zelle zur Zivilisation (German Edition)

Die Formel des Lebens: Von der Zelle zur Zivilisation (German Edition)

Titel: Die Formel des Lebens: Von der Zelle zur Zivilisation (German Edition)
Autoren: Enrico Coen
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findet ein erbitterter Wettkampf statt, in dem die Gegner versuchen, sich gegenseitig zu besiegen. Bei beiden geht es um Territorien, die die Gegner zu besetzen oder zu kontrollieren versuchen. Bei beiden wird versucht, Mitglieder des gegnerischen Lagers zu vernichten oder gefangen zu nehmen. Und bei beiden ist eines der wichtigsten strategischen Elemente die Kooperation zwischen den einzelnen Einheiten eines Lagers, die sich bei der Planung eines Angriffs oder bei der Verteidigung gegenseitig unterstützen. Abgesehen von ihrer geschichtlichen Verbindung weisen Krieg und Schach also auch formale Ähnlichkeiten auf.
    Diese beiden Bezugsmöglichkeiten – historisch und formal – hängen auch selbst miteinander zusammen. Die formalen Parallelen wie Wettkampf und Territorialität spiegeln den Ursprung des Schachspiels als Spiel, das die Kriegsführung nachahmt. Dabei werden nicht alle Eigenschaften des Krieges im Schachspiel widergespiegelt – der physische Tod von Menschen etwa gehört nicht zum Schach, genauso wenig wie der Einfluss unterschiedlicher Lage- und Umweltbedingungen. Schach wird immer unter vollkommen kontrollierten Anfangsbedingungen und auf derselben Anordnung von Quadraten gespielt, und Faktoren wie Wetter oder Sichtverhältnisse spielen dabei keine Rolle. Schach ist nicht einfach eine Widerspiegelung des Kriegs; es ist eine Abstraktion des Kriegs, die eine bestimmte Reihe von Kriterien erfasst. Und genau diese wesentlichen Merkmale bedingen die formalen Ähnlichkeiten.
    Die verschiedenen Wandlungsprozesse des Lebens sind vielleicht ebenfalls historisch oder formal verbunden. Das Leben auf der Erde begann vor etwa 3,8 Milliarden Jahren, sich zu entwickeln, und vor etwa 3,5 Milliarden Jahren war unser Planet von einer vielfältigen Ansammlung von Einzellern bevölkert. 4 In diesem Stadium der Evolution gab es noch keine komplexen vielzelligen Organismen. Sie entstanden erst später, im Lauf der letzten Milliarde Jahre, und zwarim Entwicklungsprozess aus befruchteten Eizellen. Zum Entwicklungsprozess, das heißt zur Umwandlung von Eizellen zu vielzelligen Organismen, kam es also erst lange nach dem Beginn der Evolution – so wie das Schachspiel erst entstand, als Menschen sich bereits seit vielen Jahren bekriegten.
    Auf ähnliche Weise kam es zum Lernen erst nach der biologischen Entwicklung. Die ersten vielzelligen Lebewesen, die sich auf unserer Erde herausbildeten, waren kaum lernfähig. Sie hatten keine Gehirne, mit denen sie neue Verhältnisse in ihrem Umfeld erfassen konnten. Komplexe Nervensysteme bildeten sich erst später heraus, und zwar durch Veränderungen in der Embryonenentwicklung. Ein Teil der biologischen Entwicklung bestimmter Lebewesen widmete sich fortan der Herausbildung eines Gehirns mit Nervenbahnen als Verbindungswegen. Parallel dazu entstand die Fähigkeit, aus der Umwelt zu lernen. Diese Fähigkeit teilen wir heute mit vielen unserer Verwandten, von der Nacktschnecke über den Hund bis zum Schimpansen. Lernen kam also nach der biologischen Entwicklung, so wie diese nach der Evolution kam.
    Als letzter Umwandlungstypus des Lebens entstand der kulturelle Wandel. Als der Mensch sich in sozialen Gruppen auf der Erde ausbreitete und lernte, wie er andere Lebewesen zum eigenen Nutzen zähmen und einsetzen konnte, schuf er einen Nahrungsüberfluss. Weil er außerdem zum Lernen und zur Innovation fähig war, konnten die Gesellschaften in diesem Überfluss vielfältige menschliche Spezialisierungen herausbilden, etwa Bauarbeiter, Soldaten, Künstler, Lehrer und Verwalter. Das wiederum führte zur Herausbildung immer komplexerer kultureller Systeme. Das Aufkommen der Kulturen begann erst vor 10000 Jahren, also lange nach der Herausbildung der Lernfähigkeit. Kultureller Wandel ist damit deutlich jünger als alle anderen genannten Prozesse.
    Die historischen Beziehungen scheinen klar – zuerst die Evolution, dann die individuelle biologische Entwicklung, dann das Lernen und schließlich der kulturelle Wandel. Diese zeitliche Abfolge gibt die Abhängigkeit jedes Prozesses von seinem Vorgänger wider. Die Fähigkeit von Eizellen, sich zu vielzelligen Lebewesen zu entwickeln, entstand im Prozess der Evolution. Die Lernfähigkeit setzt zunächst die Entwicklung eines komplexen Nervensystems im Embryo voraus. Und den kulturellen Wandel ermöglicht erst die Lernfähigkeit des Menschen. Die historische Kette spiegelt eine Folge von Abhängigkeiten.
    Die historischen Bezüge sind ganz
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