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Die Darwin-Kinder

Die Darwin-Kinder

Titel: Die Darwin-Kinder
Autoren: Greg Bear
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häufiger aufgetreten. Mit kindlicher Hoffnung beugte er sich vor, weil er dachte, er werde vielleicht erleben, wie seine Frau, seine Geliebte mit der schon vertrauten kleinen Bewegung zu ihm zurückkehrte. Als er sein Ohr an ihre Lippen legte, spürte er ihren Atem auf den Härchen an seinem Ohrläppchen. Kaye atmete mühsam und stoßweise, um ein paar Worte herauszubringen.
    Mitch konnte nicht mit Sicherheit sagen, was er hörte, wenn er überhaupt etwas verstand. Er hob den Kopf, um Kaye ins Gesicht zu sehen, und merkte, wie sie sich mit übermenschlicher Anstrengung darum bemühte, ihm etwas Wichtiges mitzuteilen. Das kaum merkliche Zusammenziehen der Augenbrauen, das Erstarren ihrer Wangen und die verhangenen Augenlider erinnerten ihn an die ernsthaften Gespräche vergangener Jahre, in denen sie angestrengt versucht hatte, ihm etwas zu vermitteln, das sie selbst nicht ganz verstand oder beherrschte. Das war seine Kaye gewesen: immer darum bemüht, dorthin vorzustoßen, wo Worte nicht mehr ausreichten.
    Wieder hob er sein Ohr so nahe an ihre Lippen, dass er sie fast am Sprechen hinderte. Ganz kurz glaubte er seinen Namen zu hören. Und dann: »Etwas… geht hier vor sich.«
    Er lauschte erneut.
    »Etwas… geschieht mit mir.«
    Danach blieb sie still liegen. Zwar hoben sich die Laken, also atmete sie, aber ihre Augen bewegten sich nicht mehr und ihr Gesicht wirkte leer.
    Sie schien auf etwas zu lauschen.

    Sie spürte, wie die Liebe in Wellen über sie hinwegströmte, spürte die Sehnsucht, die so kraftvoll und gleichzeitig so beängstigend war, die Freundlichkeit, die dieser Kraft zugrunde lag. Ihr Tod würde jetzt noch nicht eintreten, nicht in dieser Minute, nicht in dieser Stunde, so viel wusste sie. Aber sie war kaum noch von dieser Welt.
    Und deshalb konnte der Rufer sie umfangen und ihr alles offenbaren.
    Denn jetzt lag keine Gefahr mehr darin, sich ihm völlig hinzugeben.

    Stella setzte sich dazu und hatte das Baby im Arm. Sie trug schlichte Kleidung und hatte den Jungen nur in eine leichte Strickdecke gehüllt, weil er, wie sie sagte, ein derart heißblütiges Geschöpf war, dass er fast nie fror und sich beschwerte, wenn sie ihn zu warm einpackte.
    »Wir haben einen Namen für ihn gefunden«, sagte sie. Mit einem Blick auf ihre Mutter fragte sie Mitch, ob Kaye sie hören könne.
    »Ich weiß es nicht.« Mitch wirkte so verloren, dass Stella ihm den Enkel in die Arme drückte, während sie Kayes Bettdecke glatt strich.
    »Es ist einfach nicht fair, oder?«, fragte sie Kaye leise und beugte sich mit golden leuchtenden Wangen über sie. »Sie sieht so friedlich aus. Ich glaube, sie kann uns hören.«
    Mitch beobachtete, wie Kayes Atem einfach nur kam und ging, langsam, sehr langsam.
    »Wie soll er heißen?«, fragte er.
    »Wir werden ihn Sam nennen. Mir ist kein besserer Name eingefallen. Das Dem findet den Namen gut.«
    Mitchs Vater hatte mit Vornamen Sam geheißen. »Nicht Samuel?«
    »Nur Sam. Er mag den Namen jetzt schon. Er klingt stark, kurz und knapp und lässt sich nicht mit anderen Worten verwechseln.«
    Sam wand sich und wollte hinunter. Er war zwar erst sechs Monate alt, konnte aber schon ein bisschen laufen und selbstverständlich auch sprechen, aber nur wenn er wollte, was selten vorkam.
    Mitch versuchte, Spuren von Kaye in Sams Zügen zu entdecken, aber das Gesicht wurde eindeutig von den Augenbrauen beherrscht. Sam sah nicht Kaye, sondern ihm selbst überaus ähnlich.
    »Ich finde, er sieht wie Will aus.« Stella strich ihrer Mutter über die Wange und griff nach ihrer Hand. »Sie hat einen bestimmten Geruch. Es ist ihr Geruch, aber anders als sonst.

    Ich bin nicht sicher, ob ich sie so erkennen würde. Kannst du’s riechen?«
    Mitch schüttelte den Kopf. »Vielleicht ist es die Krankheit«, bemerkte er düster.
    »Nein.« Stella beugte sich vor, um an ihrer Mutter von der Brust bis zum Scheitel zu schnuppern. »Sie riecht wie Rauch, der von einem Holzfeuer emporsteigt. Und nach Blumen. Wir müssen von ihr lernen. Du könntest mir so viel beibringen, Mutter.«
    Sam spazierte ums Bett herum, zog an der Decke und machte kleine Geräusche, die zeigten, dass er etwas entdeckt hatte.
    Kayes Gesichtsausdruck veränderte sich zwar nicht, aber Stella sah, wie die winzigen Tupfen unterhalb ihrer Augen dunkler wurden. Selbst jetzt noch konnte Kaye ihre Liebe zeigen.

    Die Erinnerungen fallen von einem ab. Wir sind geformt, aber in einer Weise geformt, die wir nicht begreifen können. Wir wissen,
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