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Die Aspern-Schriften (German Edition)

Die Aspern-Schriften (German Edition)

Titel: Die Aspern-Schriften (German Edition)
Autoren: Henry James
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empfand ich mehr und mehr den Wunsch, ich hätte nie von Jeffrey Asperns Hinterlassenschaften gehört, und ich verfluchte die übertriebene Neugier, die John Cumnor dazu verleitet hatte, ihnen nachzuspüren. Auch ohne sie verfügten wir über ausreichend Material, und meine missliche Lage war die gerechte Strafe für die verhängnisvollste aller menschlichen Dummheiten, nämlich nicht zu wissen, wann wir hätten aufhören müssen. Es wäre nur allzu leicht zu sagen, dass die Lage gar nicht so misslich sei, dass ein Ausweg leicht zu finden sei, dass ich Venedig nur mit dem ersten Morgenzug verlassen müsse, nachdem ich Miss Tina einen kurzen Brief geschrieben hätte, der ihr erst ausgehändigt werden dürfte, nachdem ich das Haus endgültig verlassen hätte; doch wie verzwickt die Lage wirklich für mich war, das erwies sich, als ich mir im Kopf den Inhalt meines Briefes zurechtzulegen versuchte – ich wollte ihn zu Papier bringen, sobald ich wieder zu Hause wäre, noch vor dem Schlafengehen – denn mir fiel nichts anderes ein als »Wie kann ich Ihnen danken für das außerordentliche Vertrauen, das Sie mir entgegengebracht haben?« Das konnte so auf keinen Fall stehen bleiben; es hörte sich so an, als würde gleich eine Annahme ihres Antrags folgen. Natürlich konnte ich mich auch aus dem Staub machen, ohne überhaupt etwas zu schreiben, aber das wäre brutal gewesen, und ich hatte noch immer die Vorstellung, ohne brutale Lösungen auszukommen. Als meine Verwirrung sich legte, begann ich mich selbst darüber zu wundern, welche Bedeutung ich Julianas zerknüllten Papierfetzen beigemessen hatte; schon der Gedanke daran war mir nun widerwärtig, und ich ärgerte mich ebenso sehr über die alte Hexe mit ihrem Aberglauben, der sie davon abgehalten hatte, die Papiere zu vernichten, wie über mich selbst, weil ich bereits mehr Geld ausgegeben hatte, als ich mir leisten konnte, nur weil ich deren Schicksal in meine Hand nehmen wollte. Ich habe vergessen, was ich weiter tat, wohin ich ging, nachdem ich den Lido verlassen hatte, und zu welcher Tageszeit und in welcher Gemütsverfassung ich den Rückweg zu meinem Boot antrat. Ich weiß nur noch, dass ich am späten Nachmittag, als der Himmel im Sonnenuntergang glühte, vor der Kirche Santi Giovanni e Paolo stand und hinaufschaute zu dem kleinen kantigen Gesicht des schrecklichen condottiere Bartolommeo Colleoni, der so unbeirrt rittlings auf seinem riesigen Bronzepferd sitzt, hoch oben auf dem Podest, auf dem ihn die Venezianer in ihrer Dankbarkeit thronen lassen. Die Statue ist unvergleichlich schön. Das kunstvollste aller Reiterstandbilder, wenn nicht das des Marc Aurel, der in seiner Güte vor dem römischen Kapitol reitet, noch kunstvoller wäre; doch darum drehten sich meine Gedanken nicht; ich starrte den siegreichen Heerführer einfach nur an, als hätte er ein Orakel auf den Lippen. Um diese Zeit scheint die Abendsonne von Westen her auf seine grimmigen Züge und lässt ihn wunderbar lebendig wirken. Doch er blickte weiterhin über meinen Kopf hinweg in die Ferne, in den roten Untergang eines weiteren Tages – er hatte im Laufe der Jahrhunderte so viele in die Lagune hineintauchen sehen – und sollte er an Schlachten und Kriegslisten denken, dann waren sie von ganz anderer Art, als die, von denen ich ihm zu erzählen hätte. Er konnte mir keine Anweisung geben, was ich tun sollte, da mochte ich noch so lange zu ihm aufblicken. War es vorher oder nachher, dass ich etwa eine Stunde in den kleinen Kanälen herumfuhr, zur fortgesetzten Verwunderung meines Gondoliere, der mich noch nie so ruhelos und zugleich so ziellos erlebt hatte und mir keine andere Anweisung entlocken konnte als »Fahr irgendwohin – wohin du willst – überallhin«? Er erinnerte mich daran, dass ich nicht zu Mittag gegessen hatte, und äußerte daher respektvoll die Hoffnung, dass ich zeitig zu Abend essen würde. Er hatte im Laufe des Tages etliche Stunden Freizeit gehabt, immer wenn ich das Boot verließ und umherstreifte, sodass ich mich nicht verpflichtet fühlte, nun an sein Wohl zu denken, und ich teilte ihm mit, dass ich aus bestimmten Gründen bis zum nächsten Tag keine Nahrung anrühren würde. Es war dem so wenig aussichtsreichen Antrag der unglücklichen Miss Tina zu verdanken, dass ich fast völlig den Appetit verloren hatte. Ich weiß nicht, warum mir gerade in der jetzigen Situation mehr denn je die seltsame Atmosphäre von Geselligkeit, von Vetternwirtschaft und Familienleben in
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