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Deutschland schafft sich ab - Wie wir unser Land aufs Spiel setzen

Titel: Deutschland schafft sich ab - Wie wir unser Land aufs Spiel setzen
Autoren: Thilo Sarrazin
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geschaffen haben, diesen Wohlstand nicht auch gefährden können, weil die speziellen Mentalitäten und Fähigkeiten, die den Entwicklungssprung Europas (ideell Nordamerika eingeschlossen) verursacht haben, ihrerseits jetzt beeinflusst werden durch die besonderen Rahmenbedingungen, die durch Wohlstand und Sozialstaat entstanden sind.
    Zwar ist die genetische Ausstattung der Menschen aller Länder und Völker von großer Ähnlichkeit, nachweisbar vorhandene Unterschiede 8 sind jedenfalls wesentlich kleiner als die Unterschiede in den Entwicklungsständen von Staaten, Gesellschaften und Volkswirtschaften. Doch es gibt große Unterschiede in der Mentalität der Völker und Gesellschaften. Das betrifft nicht nur traditionelle Bindungen religiöser und anderer Art. Es betrifft auch die normative Innen- und Außenlenkung der Menschen, es betrifft die Loyalitätsstrukturen, die Maßstäbe sozialen Rangs sowie den Antrieb für Fleiß, Eigeninitiative und materielle Orientierung. 9
    Solche Mentalitäten und Traditionen sind - in dem weiten Rahmen, den die genetische Programmierung der Menschen zulässt - selbst historische Produkte. Sie wurden durch Rahmenbedingungen geschaffen und ändern sich, wenn diese sich ändern - wenn auch nur langsam und über Jahrhunderte. 10 Steuerbar sind solche Änderungen kaum. Sie werden auch selten geplant. Umso wirkungsvoller können sie sein, wenn sie mit elementarer Wucht hereinbrechen und eine Fülle von Folgeänderungen nach sich ziehen.
    In der Menschheitsgeschichte vollzogen sich solche wechselseitigen Beeinflussungen von Rahmenbedingungen und Mentalitäten zumeist nur ganz allmählich und ohne eine eindeutige Richtung erkennen zu lassen. Aber mit den Erfindungen, die fest im Kulturwissen der jeweiligen Gesellschaft verankert wurden, ergab sich ein
neuer Entwicklungsstand, der die Gesellschaft dauerhaft veränderte. Im Laufe der Jahrtausende nahm diese Entwicklung an Dynamik zu. In Europa fielen schließlich die Befreiung des Geistes aus religiösen Zwängen, der neugierig objektive Blick auf die Natur und den Kosmos, die Entwicklung der bürgerlichen Freiheiten, die systematische Ausdehnung freier Märkte und die explosionsartige Zunahme der technischen Erfindungen zusammen.
    Diese Dynamik und ihre Ursachen sollen hier nicht im Einzelnen aufgearbeitet werden. 11 Aber die Folgen sind zu betrachten. Die Veränderung der Rahmenbedingungen baute sich allmählich vom Mittelalter bis ins 18. Jahrhundert auf und leitete in Europa und Nordamerika eine beispiellose Bevölkerungsexplosion ein, die sich von Mitte des 18. Jahrhunderts an auf alle von den europäischen Mächten kolonisierten oder von ihnen gewaltsam geöffneten Regionen ausdehnte. Manche Regionen und Staaten nahmen das in der westlichen Technologie und Marktorganisation liegende Angebot schnell auf und entwickelten sich entsprechend schnell zu ebenbürtigen Konkurrenten (Japan). Andere brauchten lange, bis die traditionellen Strukturen sich so angepasst hatten, dass eine breit angelegte Industrialisierung möglich wurde (Indien). Wieder andere verharren im Zustand relativer Unterentwicklung bis zum Extrem der failed states.
    Die von Europa ausgehende technische Revolution brachte dem Kontinent und mit ihm Nordamerika zunächst einen gewaltigen Entwicklungsvorteil mit entsprechenden Reallohnvorsprüngen. Hier holen mittlerweile große Teile der Welt, mit China an der Spitze, auf. Das bringt die Lohnsätze in den Industriestaaten überall dort unter Druck, wo kein neuer technischer Fortschritt erzeugt wird und damit keine neuen Wettbewerbsvorteile, was möglicherweise die ganze Lebensweise der frühindustrialisierten Staaten in Frage stellt) 12 Die immer schnellere Verbreitung des Wissens, die Fortschritte in der Informationstechnologie und die sinkenden Kosten von Umschlag und Transport führen dazu, dass immer mehr Hochtechnologieprodukte immer seltener in den traditionellen Industrieländern produziert werden, sondern an qualifizierten Niedriglohnstandorten.

    Die Ausbreitung von Wissen, Technik und industriellen Produktionsformen über die ganze Welt entspricht der Logik der Marktwirtschaft und ist förderlich für die Entwicklung der Menschheit als Ganzes. Es zeigt sich aber, dass Staaten und Gesellschaften nur sehr unterschiedlich in der Lage sind, die von der Industrialisierung und Technisierung ausgehenden Entwicklungschancen zu nutzen. Damit stoßen wir wieder auf das komplexe Zusammenwirken von institutionellen und
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