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Derrick oder die Leidenschaft für das Mittelmaß

Derrick oder die Leidenschaft für das Mittelmaß

Titel: Derrick oder die Leidenschaft für das Mittelmaß
Autoren: Umberto Eco
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denen es am Ende 15
    auf der einen Seite Sieger und auf der anderen Besiegte gab (abgesehen von Grenzfällen wie den Pyrrhussiegen).
    Hätte man mich vor einem Monat gefragt, welche Form von gerechtfertigter Gewaltreaktion den heißen Schieß-
    krieg gegen Saddam ersetzen könnte, so hätte ich geant-wortet: eine sehr ernsthafte kalte Eindämmung, also ein strenges Embargo, konsequent und gnadenlos durchge-führt, auch mit Grenzscharmützeln, und ein Kontrollsy-stem (mit Notstandsgesetzen), durch das jeder westliche Industrielle, der Saddam auch nur einen Zeichenstift verkauft, im Gefängnis landet. Nach einem Jahr wären seine Angriffs- und Verteidigungswaffen weitgehend unbrauch-bar geworden. Aber das ist die Weisheit des Hinterher.
    Die Weisheit, die immer und morgen gilt, sagt uns: Wenn dich einer mit einem Messer angreift, hast du das Recht, zumindest mit einer Faust zu antworten; aber wenn du Supermann bist und weißt, daß du den Gegner mit einem Faustschlag auf den Mond befördern kannst, daß der Schock unseren Planeten zerbröckeln läßt und das Gravi-tationssystem durcheinanderbringt, so daß Mars mit Mer-kur kollidiert und so weiter, dann überleg dir’s lieber einen Moment – auch weil es ja sein könnte, daß die Gravitati-onskatastrophe genau das ist, was dein Gegner wollte. Und was du ihm gerade nicht gewähren solltest.
    1991
    16
    Exil, Rushdie und das globale Dorf
    Ich weiß nicht, ob es eine Sozialgeschichte des Verfolgten gibt. Nicht der Verfolgung und der Intoleranz (die gibt es), sondern der sozialen Rolle und Lebensweise, die dem Verfolgten beschieden ist, nicht wenn er unter den Schlägen seines Verfolgers stirbt, sondern wenn er seinem Verfolger heil entkommt, indem er ins Exil geht.
    In früheren Jahrhunderten waren die Exilgeschichten in der Regel höchst schmerzlich und demütigend. Selbst Dante, der ja alles in allem noch Glück gehabt hatte, fand das Brot in der Fremde salzig. Personen wie Giordano Bruno hatten zwar, bevor sie vom Feind gefaßt und ausge-schaltet wurden, auf fremdem Boden große Ehren empfangen, aber sie fanden immer jemanden, der sie zu diffa-mieren und in Fallen zu locken versuchte. Und sprechen wir nicht von Mazzini, der, schon von sich aus hohlwan-gig, im Exil immer noch dürrer und bleicher wurde.
    Erst in unserem Jahrhundert hatte es angefangen, den ins Exil Getriebenen etwas besser zu gehen. Einerseits ver-band sich mit dem Exilanten die gleiche Außenseiter-Faszination wie mit dem poète maudit und dem lasterhaf-ten Ästheten – soziale Kategorien, die, im vorigen Jahrhundert noch übel behandelt, zum Leben in Dachkammern und zur Schwindsucht verdammt, in unserem Jahrhundert zu gesuchten Repräsentationsfiguren aufstiegen, um die sich die guten Familien und die Kulturinstitutionen rissen, die zum Abendessen, zu Bootsfahrten und zu Kongressen über die Regeln der Transgression eingeladen wurden.
    Überdies trieb die Entwicklung von demokratischen Ge-fühlen alle dazu, den Exilanten wohlwollend aufzuneh-17
    men, zu unterstützen und zu privilegieren, galt er doch als das lebende Symbol des Widerstands gegen Despotismus.
    So kam es, daß die Lage des religiös oder politisch Verfolgten alles in allem (Anfälle von Heimweh nach dem fernen Vaterland beiseite) wenn nicht angenehm, so doch erträglich wurde – und für einige so vorteilhaft, daß sie sich als Verfolgte ausgaben, auch wenn sie es gar nicht waren, um zumindest, was weiß ich, ein Gehalt bei ir-gendeinem Geheimdienst zu beziehen.
    Es muß mit den russischen Großherzögen begonnen haben, die vor der Oktoberrevolution geflohen waren und sich womöglich als Eintänzer in Pariser Nachtklubs verdingten, aber in den besten Kreisen verkehrten und von den Damen, die ihre Empfänge nobilitieren wollten, sehr verhätschelt wurden. Ich spreche nicht von den Exilkubanern in Miami, die geradezu im Speck sitzen, aber man braucht sich bloß zu erinnern, wie schick es in den letzten Jahrzehnten war, auf Parties einen politischen Flüchtling zu präsentieren, erst einen tschechischen, dann einen chilenischen, dann einen argentinischen, oder auch einen Samisdat-Autor und so weiter, je nach den Zeitläuften, den Begeisterungen (und den Vergeßlichkeiten), skandiert von den diversen Staats-streichen, Revolutionen und Paradigmenwechseln.
    Das alles ist mit dem Fall Rushdie vorbei. Der Fall Rushdie zeigt, daß mit der Macht der Massenmedien, ein Todesurteil hochzuspielen und über den ganzen Globus zu verbreiten, auf
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