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Derrick oder die Leidenschaft für das Mittelmaß

Derrick oder die Leidenschaft für das Mittelmaß

Titel: Derrick oder die Leidenschaft für das Mittelmaß
Autoren: Umberto Eco
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nicht das einzige Problem: Jedem, der den Prozeß verfolgt und die Hunderte von Seiten der Verhandlungsakten und des Schlußurteils gelesen hatte, war klargeworden, daß dieser Prozeß gegen alle Regeln der Logik und der Vernunft geführt worden war – Ursachen waren mit Wirkungen verwechselt worden und umgekehrt, als belastend war gewertet worden, daß sich der Angeklagte mit dem Leben der Ameisen beschäftigte, daß er in seinen Schubladen allerlei seltsame und kuriose Dinge aufbewahrte und dergleichen mehr.
    Jener Teil der Öffentlichkeit, der sich damals mit dem Fall beschäftigte, hatte das einzige getan, was getan werden konnte und mußte: Er hatte die Dokumente minutiös

    * Sotto il nome di plagio , Mailand, Bompiani, 1969, mit Beiträgen von Alber-to Moravia, Adolfo Gatti, Mario Gozzano, Cesare Musatti u. a. m.
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    geprüft und die Prozeßfehler öffentlich angeprangert, Fehler, die mehr noch mentaler als juristischer Art waren. Am Ende war Braibanti in der Berufungsverhandlung freige-sprochen worden. Es war nicht nötig gewesen zu sagen, ob man ihn sympathisch fand oder nicht, ob man seine Ideen und seine sexuellen Vorlieben teilte oder nicht: Es lag einfach kein Delikt vor – es sei denn, man wollte Homose-xualität als Delikt betrachten, aber gerade dies war einer der Punkte, in denen sich die Urteilsbegründung aufs monströseste verrannt hatte.
    Warum erinnere ich an diesen Fall? Weil am Ende die wohlüberlegten Beiträge, die auf den Kern der Sache ziel-ten – daß der Prozeß fehlerhaft war –, sicher dazu beige-tragen hatten, daß es zu einer vernünftigeren Bewertung des Falles kam. Wären statt dessen Demonstrationen von Schwulen durch die Straßen gezogen, die Freiheit für Braibanti forderten, weil er einer der ihren sei, dann säße er wahrscheinlich heute noch im Gefängnis.
    Nun zurück zum Fall Sofri. Viele der Stellungnahmen zu seinen Gunsten waren, wenn auch verschieden ausgestal-tet, von der Art: »Ich kenne ihn gut, er kann so etwas gar nicht getan haben.« Solche Beiträge finde ich wenn nicht schädlich, so doch vollkommen unnütz. Das Argument der moralischen Überzeugung ist in jedem Prozeß eines der schwächsten, sei’s auch nur aus dem einfachen Grund, daß jeder Delinquent eine Sekunde, bevor er sein Delikt be-geht, noch kein Delinquent ist (es sei denn, man folgte der Theorie vom »geborenen Verbrecher«). Das Argument, daß der Angeklagte doch so ein netter Kerl sei, den alle mögen und schätzen, ist genau das, zu dem jede Mutter greift, wenn ihr Sohn auf frischer Tat ertappt worden ist.
    Moralische Überzeugungen sind von größter Bedeutung für die Bewertung einer Person, aber nicht für die Durchführung eines Prozesses. Und was noch schlimmer ist, sie 38
    sind dort nicht nur wertlos, sondern sie können, wenn sie massenhaft und hartnäckig vertreten werden, sogar scha-den, da sie die Richter dazu veranlassen, sich gegen einen Druck zu wehren, den sie als psychischen Druck von seiten derer wahrnehmen, die sich aus ihrer Sicht in einem Komplizenverhältnis zum Angeklagten befinden. Gott bewahre mich vor meinen Freunden.
    Mag sein, daß mein Widerwille gegen Verteidigungen à la »Ich kenne ihn gut« eine persönliche Abneigung ist.
    Aber ich denke, wenn jemand eines Verbrechens angeklagt ist, dann hat man entweder Beweise für seine Unschuld und muß sie unverzüglich dem Gericht vorlegen, oder man hat bloß moralische Überzeugungen, und dann muß man wissen, daß sie vor Gericht nichts zählen.
    Rechtsgarantien verteidigt nicht der, der handelt, weil er von der Unschuld eines Angeklagten überzeugt ist, sondern der, der handelt, weil er das Recht des Angeklagten auf ein schnelles und wohlabgewogenes Urteil respektiert haben will.
    Ein weiteres emotionales Argument, das man oft zu hö-
    ren bekommt, ist: es sei ungerecht, jemanden für ein vor zwanzig Jahren begangenes Verbrechen zu verurteilen, wenn sein Leben sich seither gründlich verändert hat. Ein unsinniges Argument, denn es hieße ja allgemein zu behaupten, die Zeit tilge das Verbrechen. Was dieses Argument darüber hinaus zweischneidig macht, ist der Umstand, daß es von denen benutzt wird, die Sofris Unschuld beteuern und zugleich bereit sind, seine Schuld einzuräumen, sofern man nur anerkennt, daß er sich mit der Zeit verändert habe. Noch einmal, Gott bewahre mich vor meinen Freunden.
    Ebenso zwiespältig erscheinen mir alle Gnadenappelle an den Staatspräsidenten, und ich finde es richtig und
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