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Der zweite Tod

Der zweite Tod

Titel: Der zweite Tod
Autoren: Daniel Scholten
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nicht, dass jetzt alles anders werden würde. Er hatte ihr viel zu erzählen.
    Endlich trat sie ins Arbeitszimmer, das Kuvert hielt sie in der linken Hand. Es war so groß und dick, wie er erwartet hatte. Mari blickte ihn fordernd an, ohne sich für das Kuvert zu interessieren. Sie forderte etwas ganz anderes. Dafür würde bald Zeit sein. Er lächelte, erkannte dann aber sogleich, dass sie das missverstand. Ohne ein Wort legte sie das Kuvert auf die freigeräumte Platte des Schreibtischs, machte aber keine Anstalten, wieder ins Wohnzimmer zurückzukehren. Jetzt konnte sie auch dabei sein.
    »Mach es auf«, knurrte er, weil er glaubte, seine Hände würden zu fahrig sein, um es selbst zu tun.
    Mari zerrte und rüttelte an der Lasche des Kuverts, begriff dann aber, dass sich das Papier nicht zerreißen ließ.
    »Nimm doch den Brieföffner! Das Papier ist reißfest.«
    Sie zog die Schreibtischlade auf und wühlte ungeduldig in den Stiften herum, bis sie den Brieföffner mit der geschliffenen Spitze fand.
    Carl stemmte sich aus dem Sessel und schlurfte in seinen Lederpantoffeln zu ihr hinüber. Er spürte sein Alter in den Gliedern. Bishops Elamische Paläographie blieb auf dem Boden liegen.
    Sie war schön in ihrem Nachthemd. Er erahnte die weiblichen Formen ihres jungen Körpers darunter. Gerne hätte er seine Arme um ihre Hüften gelegt und nach der langen Zeit endlich wieder etwas Zärtliches zu ihr gesagt. Aber sie würde seine Aufmerksamkeit sofort ganz für sich einfordern. Er setzte sich still an den Schreibtisch.
    Mit der Spitze des Zeigefingers wischte er über die frisch polierte Platte. Er konnte kaum glauben, wie glatt es lief. Es war ein Meisterstück, sein Meisterstück.
    Mari hatte endlich das Kuvert geöffnet, fischte die Papiere heraus und breitete sie vor ihm auf dem Tisch aus. Carl trennte die drei gehefteten Stapel und legte sie nebeneinander. Am Morgen hatte er den Schreibtisch freigeräumt und das Holz gepflegt, um seine Nerven zu beruhigen. Er hatte dreimal nachpolieren müssen, bis der ölige Film ganz verschwunden war. Bildschirm und Computer standen noch auf dem Boden. Er war zu aufgeregt gewesen, um die Kabel wieder zusammenzustecken.
    Wie erhebend sich die drei Stapel nun auf der leeren Holzplatte ausmachen würden, hatte er nicht bedacht. Ein Anblick der Klarheit am Ende eines langen Weges.
    Zufrieden überflog Carl Petersson die Seiten. Das Rascheln und Knistern des dünnen Durchschlagpapiers füllte die Stille im Zimmer aus, nur vom Wohnzimmer her drang leise eine Frauenstimme aus dem französischen Spielfilm herüber. Jetzt mussten sie nur noch warten, bis es wieder klingelte. Mari würde überrascht sein.
    Stattdessen kam der Schlag. Die Wucht ließ seinen Oberkörper einmal vor- und zurückwippen. Etwas Großes und Schweres musste ihn von hinten getroffen haben. Der Schmerz drang spitz und stechend in seinen Rücken ein und breitete sich in Wellen in seinem Körper aus. In seinen Fingern und Zehen schienen ihn winzige Nadeln zu stechen. Die Welle hinterließ überall Taubheit. Sein Körper schlief langsam ein. Die Wurzel seiner Zunge begann anzuschwellen und gegen seinen Gaumen zu drücken. Er bildete sich Gerüche ein, die es hier nicht geben konnte. Mandeln und Veilchen. Er schmeckte die Säure, die aus seinem Magen heraufdrang. Die Überraschung ging in eine träge Schwere über, dazwischen durchlitt er einen Augenblick der Fassungslosigkeit. Wie ein hämisches Echo hallte Sinuhes berühmter Ausspruch durch seinen Kopf.
    Das ist der Geschmack des Todes.
    Es gab nun keinen Zweifel mehr darüber, auf welchem Wort der Satz zu betonen war. Die wissenschaftliche Diskussion war beendet. Dass er einmal solche Gewissheit erlangen würde, hatte er nicht erwartet.
    Das war alles. Weiter kamen seine Gedanken nicht. Carl Petersson drehte den Kopf zur Seite. Mari stand schweigend da und starrte ins Leere. Sie hatte den Blick von ihm abgewandt. Wut, Schrecken, er las beides in ihren Augen. Warum sah sie ihn nicht an? Er griff sich an den Rücken und tastete, bis er kaltes Metall spürte. Ohne zu begreifen, tastete er weiter. Ein unbekanntes Ziel zog seine Finger an, bis seine Hände in ihrer Verdrehung zu zittern begannen.
    Der Brieföffner. Mari.
    Mari hatte ihm die Klinge in den Rücken gestoßen. Aber er hatte doch einen dumpfen Schlag gespürt! Jetzt erst begriff er, wirklich erst jetzt.
    Seine Arme erschlafften nun. Es war ihm nicht gelungen, die Klinge herauszuziehen, obwohl sie nicht so
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