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Der weiße Klang der Wellen: Roman (German Edition)

Der weiße Klang der Wellen: Roman (German Edition)

Titel: Der weiße Klang der Wellen: Roman (German Edition)
Autoren: Anita Shreve
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ihn
schließlich den Job kosten würde, zu gestehen, daß er Herpes hatte (warum waren
ihre Gedanken über Männer heute so feindselig?). Eine Frau, die nicht schön
war, aber nackt vor dem Spiegel tanzte, was sie zu Hause nie tun würde,
vielleicht nie mehr tun würde (na also, das war schon besser). Sie nahm die
Brille ab, damit sie nicht mehr bis ans andere Ende des Zimmers sehen konnte,
lehnte sich gegen das Kopfteil und schloß die Augen.
    Sie hatte nichts zu sagen, weil sie schon alles gesagt hatte. Sie
hatte alle Gedichte geschrieben, die zu schreiben waren. Obwohl etwas Großes
und Untergründiges ihre Gedanken angetrieben hatte, war sie nur eine
unbedeutende Dichterin. Möglicherweise schnitt sie besser ab als erwartet. Sie
würde den Dingen heute abend einfach ihren Lauf lassen, schon bald zu den
Fragen übergehen und das Publikum das weitere Geschehen bestimmen lassen.
Glücklicherweise würde es nicht lange dauern. Genau aus diesem Grund schätzte
sie Literaturfestivals: Sie war nur eine unter vielen Schriftstellern und
Dichtern (mehr Schriftsteller als Dichter), und die meisten waren bekannter als
sie. Sie wußte, daß sie sich das Programm ansehen sollte, bevor sie zu der
Cocktailparty ging, denn es konnte hilfreich sein, frühzeitig einen Bekannten
zu finden, um nicht allein herumzustehen, unbegehrt zu wirken und eine leichte
Beute abzugeben. Aber wenn sie sich das Programm ansah, würde der Abend zu früh
Besitz von ihr ergreifen, und sie sträubte sich gegen diese Art, in Besitz
genommen zu werden. Wie fürsorglich sie doch in letzter Zeit zu sich selbst
war, als trüge sie etwas Zartes und Kostbares in sich, das verteidigt werden
mußte.
    Von der Straße, zwölf Stockwerke tiefer, tönte das Klappern einer
großen Maschine herauf. Auf dem Gang waren Stimmen zu hören, die eines Mannes
und einer Frau, eindeutig erregt.
    Es war reines Sich-gehen-Lassen, das Schreiben. Sie konnte sich noch
immer an die große Freude (war es ein Mittel gegen die Sorge?) erinnern, an die
äußere Beschaffenheit ihrer Buchstaben, die auf kräftigen Linien standen, an
den eleganten Schwung der blauen Tintenschrift auf ihrem ersten Übungsheft (das
großzügige S bei Sparsamkeit, das elegante N bei Neid). Sie sammelte inzwischen
alte Übungshefte, kleine Fundgruben schöner Handschriften. Es war Kunst,
wirkliche Kunst, dessen war sie sicher. Sie hatte einzelne Seiten gerahmt und
an die Wände ihres Arbeitszimmers gehängt. Vermutlich waren die Übungshefte
(bloße Schularbeiten anonymer, längst verstorbener Frauen) praktisch wertlos –
sie hatte selten mehr als fünf oder zehn Dollar in den Antiquariaten dafür
bezahlt –, aber sie machten ihr trotzdem Freude. Sie war überzeugt, daß
Literatur für sie aus dem Akt des Schreibens selbst bestand, auch wenn ihre eigene
Schrift inzwischen erschreckend verkümmert war, fast nur noch ein Code.
    Sie stand vom Bett auf und setzte ihre Brille auf. Sie sah in den
Spiegel. Heute abend würde sie lange Ohrringe aus Rosenquarz tragen. Sie würde
die Kontaktlinsen wieder einsetzen und Lippenstift wählen, der sich mit dem
Rosenquarz nicht beißen durfte, und damit hätte es sich. Von einem bestimmten
Blickwinkel aus wäre sie vielleicht einfach unsichtbar.
    Die Party fand in einem Raum statt, der für solche Anlässe
reserviert war. Vermutlich hielt man den Ausblick für attraktiv, obwohl die
Dunkelheit schon eingebrochen war und die Stadt jetzt grau wirkte. Hier und
dort blitzten Lichter, und sie konnte sich des Gedankens nicht erwehren: In
diesem oder jenem Zimmer werden sich Frauen ausziehen und Männer mit gelösten
Krawatten werden Drinks eingießen. Obwohl es andere, groteskere Szenarien in
Erwägung zu ziehen gab.
    Das Fenster klapperte in einem Windstoß ähnlich dem, der vorhin ihr
Haar aufgewirbelt hatte. Einen Moment lang wurden die Lichter schwächer, und
für genau diese Zeitspanne verstummten die Gespräche, eine Pause, die an eine
Panik in einem finsteren Hotel denken ließ, an Hände, die sich vorwärts
tasteten. Irgendeine scheußliche Musik, ähnlich den banalen Klängen im
Hotelaufzug, durchsetzte die Unterhaltung. Sie sah kein bekanntes Gesicht, und
das war beruhigend. Es befanden sich vielleicht fünfundzwanzig Leute in der
Suite, als sie eintraf, die meisten bereits mit Drinks in der Hand, in Gruppen
zusammenstehend. Entlang einer Wand waren auf einem Tisch die üblichen
Partyhäppchen aufgereiht. Sie stellte ihre Tasche unter einen Stuhl an der Tür
und ging
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