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Der Vierte Tag

Der Vierte Tag

Titel: Der Vierte Tag
Autoren: Christoph Spielberg
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Facharztzeugnis würde sogar Verständnis haben.
    Renate ist auf dem Weg zum Schrank mit den Infusionen, hält dann inne.
    "Das geht nicht. Die Infusion muss frisch zubereitet werden."
    "Dann machen Sie das bitte."
    Der Blinde wäre der bessere Arzt von uns beiden. Bei mir läge jetzt zumindest eine Spur von Ungeduld in der Stimme.
    "Das kann ich nicht. Das muss unten in unserer Apotheke gemacht werden."
    Was natürlich purer Blödsinn ist. Mir ist nicht klar, worauf Renate hinaus will. Hofft sie, den Blinden zu zermürben? Soll die Hausapotheke zusammen mit der Infusion ein paar Waffen für uns einschmuggeln? Wahrscheinlich will sie nur Zeit gewinnen, den Blinden beschäftigen.
    "Gut, Schwester Renate. Ich hoffe, Sie spielen hier keine Komödie, schon gar nicht auf Kosten Ihrer Patienten. Wenn Sie diese Infusion wirklich aus der Apotheke brauchen, machen Sie bei dieser Gelegenheit bitte eine Liste, falls in nächster Zeit noch andere Medikamente von dort benötigt werden."
    "An welchen Zeitraum denken Sie dabei?"
    Bravo, Renate! Schlaue Frage. Und endlich habe ich ihn erwischt: Der Patient in Bett zwei blinzelt jetzt deutlich mit einem Auge, sicher ebenso interessiert an der Antwort wie ich.
    Der Blinde zögert nur einen Moment: "Unter anderem, Schwester Renate, hängt das von Ihnen ab. Von Ihnen allen hier. Lassen Sie mich bei dieser Gelegenheit eines ganz klar machen. Solange ich hier bin, wird kein Patient zu Schaden kommen oder gar sterben."
    Herr Sauerbier in Bett eins lächelt zufrieden. Unter diesen Umständen kann er die Vorstellung weiter entspannt genießen. Mich hingegen erschrecken sowohl die Naivität des Blinden wie auch die deutliche Drohung in seiner Aussage. Ich hebe zu einer meiner berühmten Klarstellungen an.
    "Hören Sie, Sie befinden sich hier auf einer Intensivstation, wie Sie sicher wissen. Das bedeutet, dass unseren Patienten alle technischen Möglichkeiten der modernen Medizin zur Verfügung stehen. Intensivstation heißt aber auch, dass die Patienten hier sehr, sehr krank sind. Wir sind Ärzte, keine Götter."
    Erwartungsgemäß gibt Zentis noch seinen Senf dazu, schließlich ist er der Chefarzt.
    "Dr. Hoffmann will Ihnen damit sagen, dass wir uns unverändert alle Mühe geben werden mit unseren Patienten, das tun wir immer. Aber kranke Menschen haben einfach eine schlechtere Lebenserwartung als gesunde. Und wie Dr. Hoffmann schon gesagt hat, lieber Mann, sind Patienten auf einer Intensivstation in aller Regel sehr krank."
    Trotz der dunklen Brille meine ich zu sehen, wie kurz ein unwilliges Zucken über das Gesicht des Blinden huscht. Zum erstenmal seit Beginn dieses Überfalls muss er erkennen, dass seine Allmacht nicht unbegrenzt ist. Wahrscheinlich deshalb bleibt er störrisch und uneinsichtig.
    "Ja, Sie sollten sich unbedingt alle Mühe geben, denn ich wiederhole: Kein Patient wird sterben, solange ich hier die Anweisungen gebe. Lassen Sie es mich Ihnen noch klarer machen, meine Herren Ärzte: Für jeden Patienten, der trotzdem stirbt, wird auch einer von Ihnen sterben."
    Besorgt schaue ich auf den Monitor über Bett vier. Die Kurven dort sehen trotz aller Apparate überhaupt nicht gut aus.
    Nun ist klar, unser Freund ist übergeschnappt, rationalen Argumenten nicht zugänglich. Keine gute Aussicht hinsichtlich unserer persönlichen Lebenserwartung. Wenn dieses Beispiel Schule macht, ein toter Arzt für jeden verstorbenen Patienten, wären die Probleme der Vitalkliniken GmbH mit dem angeblichen Personalüberhang bald gelöst.
    Es dauert einen Moment, bis mir eine Alternative zu dieser beunruhigenden Diagnose einfällt. Vielleicht verhält es sich genau anders herum, und wir haben es mit einem ganz wachen Köpfchen zu tun, das uns gerade mitgeteilt hat, dass wir doch lebend aus dieser Sache herauskommen werden. Die Drohung muss nicht bedeuten, dass der Typ von durchgeknallten Allmachtsphantasien besessen ist. Sie könnte auch ein geschickter Schachzug sein, eine Vorsorge für die Zukunft: Sollte jetzt ein Patient zu Schaden kommen, könnte man ihm das später jedenfalls nicht anlasten, träfe ihn nach dieser eindeutigen Drohung keine Schuld.
    Zentis scheint diese Idee noch nicht gekommen zu sein, mit der Auge-um-Auge-Drohung hat sich endgültig die letzte Farbe aus seinem Gesicht verabschiedet.
    "Der ist ja total verrückt! Das meint der doch nicht wirklich", flüstert er mir zu.
    Diese Chance kann ich mir nicht entgehen lassen.
    "Da wäre ich nicht so sicher, Zentis."
    Es ist an der
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