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Der Vermesser

Der Vermesser

Titel: Der Vermesser
Autoren: Clare Clark
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Getöses wirkte das Schafott
    selbst ruhig und unauffällig – lediglich ein schwarzer Stumpf
    samt Kette, der aus dem Tor in der schwarzen Gefängnismauer
    herausragte, versehen mit Balken und Querbalken, die dem Tu-
    mult gleichsam den Rücken kehrten. Ein bescheidenes Gerüst,
    das kaum so viel Aufhebens wert schien.
    Mit Lady im Schlepptau bahnte sich Tom seinen Weg durch
    die Menschen. Nach jenem Abend war er vorsichtshalber in De-
    ckung gegangen, darauf bedacht, den East Court zu meiden und
    sich nur in den dunklen geheimen Winkeln der Massenquartiere
    aufzuhalten, in die sich niemals Fremde wagten. Nachts schlief
    er auf einem Strohsack im Keller, Ladys warmen Körper auf den
    Knien und auf Schritte lauschend, während sie leise schnarchte.
    An jenem Abend in den Tunneln waren sie wie aus dem Nichts
    aufgetaucht, drei oder vier dieser Mistkerle, ohne jede Vorwar-
    nung. Tom war nur der Bruchteil einer Sekunde geblieben, um

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    sich ins Dunkel zu verdrücken. Er war nicht sicher, ob sie ihn
    nicht doch gesehen hatten. Zuerst hatte er geglaubt, Hawke hätte
    die Männer zu seinem Schutz bestellt. Aber dann hatte er es ge-
    hört. Sie hatten den Captain schnurstracks ins Gefängnis beför-
    dert. Wie sich herausstellte, gaben sie ihm die Schuld am Tod
    dieses Kerls in den Abwasserkanälen. Tom hätte froh darüber
    sein sollen, aber es steigerte nur seine Unruhe. Man konnte ja
    nicht wissen, was der Captain vor Gericht ausplaudern würde,
    wenn sich die Schlinge um seinen Hals immer enger zog. Tage-
    lang hatte Tom schon fast eine Hand auf seiner Schulter gespürt
    und gefühlt, wie ihm die Arme auf den Rücken gedreht wurden.
    Aber die Zeit war vergangen, ohne dass etwas passiert wäre. Tom
    war seit über einer Woche nicht im East Court gewesen, aber
    laut Joe hatte sich kein dienstbeflissener Polyp an seiner verrie-
    gelten Tür blicken lassen oder sich in den Schenken nach ihm er-
    kundigt. Sogar Eddowes, der Wirt des Kaffeehauses, der seine
    Ohren überall hatte, hatte im Zusammenhang mit der ganzen
    erbärmlichen Geschichte niemals Toms Namen fallen hören.
    Dennoch blieb Tom auf der Hut. Vielleicht lauerten sie ihm auf,
    warteten, bis er glaubte, die Luft sei rein. Aber heute wurde der
    Schweinehund aufgeknüpft. Heute sah sogar der vorsichtige
    Tom keine Gefahr mehr für sich. Lady, sein Engel, war dem Cap-
    tain zwar an den Kragen gegangen, doch sie hatte ihm die Kehle
    nicht ganz durchgebissen, so dass er Tom immer noch hätte ver-
    pfeifen können. Aber selbst wenn er es versucht hatte, so hatte
    ihn anscheinend niemand angehört. Und jetzt war es für ihn aus
    und vorbei, ganz offiziell. Die volle Wucht des Gesetzes, das Par-
    lament und sogar Ihre Majestät Königin Victoria hatten Ladys
    Werk vollendet. Er empfang ein gehöriges Maß an Genugtuung.
    Um sieben Uhr morgens hatten sich Tom und Lady ein beque-
    mes Plätzchen an der Backsteinmauer erobert, mit einem ausge-
    zeichneten Blick auf das Geschehen. Ringsum hörte man Scherze

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    und Gelächter, es wurde gedrängelt, geschubst und gerempelt,
    ein Meer von Menschen, so weit das Auge reichte. Tom gegen-
    über versuchte sich ein Mann mit aller Kraft an einem Regen-
    rohr zu einem Sims hochzuziehen, doch der Ladenbesitzer, dem
    das Haus gehörte, hielt ihn an den Beinen fest und ließ ihn nicht
    mehr los. Es herrschte gespannte Aufmerksamkeit, und von al-
    len Seiten erschollen anstachelnde Rufe, so wild und begeistert,
    dass man hätte glauben können, es fände ein Rattenkampf statt.
    Bei dem Gedanken musste Tom laut lachen. An den Fenstern der
    Läden hingen Trauben von Menschen. Über dem Hutmacherge-
    schäft saßen i
    e n dicker Schneider und seine Fra
    u a F
    m enster und
    schlürften genüsslich eine Tasse Tee.
    Mittlerweile patrouillierte eine Polizeieskorte an der Absper-
    rung auf und ab, mit ausdruckslosem Blick, als wären die Unifor-
    mierten taub für die Schmährufe, mit denen freche Laufburschen
    und Gehilfen aus der vordersten Reihe sie überschütteten. Das
    Gedränge war jetzt so groß, dass man kaum mehr fest auf den
    Füßen stehen konnte. Tom spreizte die Ellbogen, damit Lady, die
    sich auf seinen Armen zusammengerollt hatte, nicht angerem-
    pelt wurde. Eigentlich hätte er sie gar nicht mitnehmen sollen,
    denn am Boden würde sie in null Komma nichts niedergetram-
    pelt. Aber es war nur recht und billig, dass sie hier war. Wie jeder
    andere hatte sie das Recht, den Schurken am Galgen baumeln
    zu sehen, und gewiss
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