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Der Turm der Könige

Der Turm der Könige

Titel: Der Turm der Könige
Autoren: Nerea Riesco
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Wind wie die Unterröcke einer alten Bettlerin, und als sie in den Patio kam, stellte sie fest, dass die Natur klüger war als der Mensch und der Freiheit entgegenstrebte. Die Pflanzen in den Blumentöpfen wucherten an den Säulen empor, dem kleinen Viereck des Himmels entgegen.
    Doch dieser Eindruck der Verwahrlosung verschwand, als sie den vertrauten Geruch nach Geranien, Möbelwachs und Druckerschwärze wahrnahm. In diesem Moment begriff sie, dass sie Verantwortung hatte. Vor dem Leben davonzulaufen war das Schlimmste, was einem Menschen passieren konnte, und so beschloss sie, ihr Leben so anzunehmen, wie es ihr zugefallen war. Sie würde nicht fortgehen können. Ohne diese aufregende Stadt, die den Tod genauso besang wie das Leben, würde sie eingehen wie eine Primel.
    Sie konnte nicht ohne das Rattern der Druckmaschinen leben, das den Takt ihres Herzschlags vorgab. Darin glich sie Doña Julia. Die Buchstaben waren ihre Bestimmung, obwohl sie der festen Überzeugung war, dass das herausragendste Buch, das die Druckerpressen ihres Geschäfts je verlassen konnte, bereits erschienen war. Es hieß
Das Buch ohne Namen
, und sie war der einzige Mensch, der es ganz gelesen hatte. Sie beschloss, es zusammen mit den übrigen Familiengeheimnissen wieder in dem Tresor auf dem Dachboden zu verwahren.
    Monsieur Verdoux hatte unrecht gehabt, als er sagte, Mamita Lulas übermütiger Geist gehe nicht im Haus um. Guiomar konnte das Rascheln ihrer Röcke in den Fluren hören, sie nahm die heiße afrikanische Luft wahr, die die Öllampen ausblies, die aus Unachtsamkeit nicht gelöscht worden waren, sie spürte die große, raue Hand, die, kurz bevor sie einschlief, über ihre Wange strich und sie beschützte, wie sie es immer getan hatte.
    Guiomar zog die Vorhänge zurück und öffnete die Fenster, um das Sonnenlicht Sevillas hereinzulassen, das die Fähigkeit besaß, alle Trauer zu vertreiben.
    ***
    ZWEI WOCHEN SPÄTER verkündete das Domkapitel feierlich, dass die Türflügel der Puerta del Perdón wieder durch die almohadischen Originale ersetzte werden sollten, die seit mehr als fünfhundert Jahren im Keller vor sich hin rotteten, in einem Raum voller mottenzerfressener Messgewänder und den Reliquien des heiligen Stanislaus von Krakau, von denen gemutmaßt wurde, es handele sich um schlichte Hühnerknochen. Als der Aprilregen vorüber war, fand die feierliche Einsetzung statt. Eine Delegation unter der Leitung des Sultans von Marokko traf in Sevilla ein. Sie kamen im Königlichen Alcázar unter, wo man sie mit ebensolchem Prunk empfing wie ein halbes Jahrhundert zuvor den marokkanischen Botschafter. Am vorgesehenen Termin war ein strahlend schöner Tag. Die Stadt hatte schon lange nicht mehr einem so feierlichen Ereignis entgegengesehen.
    Eine staunende Menge drängte sich auf den Stufen der Kirche und in den umliegenden Straßen. Die Menschen standen auf den Balkonen, stiegen auf die Dächer und kletterten an den steinernen Pfeilern hinauf, wie in der Karwoche. Sie trugen ihre besten Kleider in dem Bewusstsein, dass sie an einem denkwürdigen Moment teilhatten. Die Stadtbüttel mussten rohe Gewalt anwenden, um einer Gruppe von zwanzig Männern einen Weg zu bahnen, Christen wie Muslime, welche die schwere almohadische Tür auf ihren Schultern trugen. Sie marschierten zum Klang von Trommeln, die eigens dafür aus der Wüste herbeigeschafft worden waren. Ihr Dröhnen war so laut, dass es einem in den Magen fuhr.
    Bis zu diesem Moment hatten nur wenige Menschen Gelegenheit gehabt, die mit Bronze beschlagene Zedernholztür in ihrer ganzen Pracht zu sehen. Die Zeit hatte sie mit einer olivfarbenen Patina versehen, die die ursprünglich rötliche Farbe und die Kufischrift überdeckte. Fünfeinhalb Jahrhunderte zuvor hatte Prinz Alfons der Weise entschieden, sie auszutauschen, weil er es für unpassend hielt, dass am Portal eines christlichen Gotteshauses der Satz
     
    Die Macht gehört Allah und Allah ist die Ewigkeit
     
    geschrieben stand. Vor allem, wenn man bedachte, dass man durch dieses Portal den islamischen
sahn
, den Innenhof mit dem Becken für die rituellen Waschungen, betrat. Damit nicht genug, besaß die Tür zwei riesige Türgriffe in Form von Palmblättern, die neben floralem Dekor die Koranverse
al-Nur
und
al-Hiyr
aufwiesen. Doch inzwischen war in der Stadt niemand mehr in der Lage, sie zu übersetzen, und so blieb die Empörung aus.
    Die Männer brauchten über sechs Stunden, um das Portal wieder an seinem
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