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Der Trafikant / ebook (German Edition)

Der Trafikant / ebook (German Edition)

Titel: Der Trafikant / ebook (German Edition)
Autoren: Robert Seethaler
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trotzdem vorstellen?« Franz schüttelte den Kopf. Der Verhärmte zog ein Zigarettenetui aus seiner Manteltasche, holte eine dünne Zigarillo heraus, zündete sie an und beobachtete Franz, wie er mit den Zähnen Streifen vom Klebeband abriss und damit den Zettel sorgfältig an der Scheibe befestigte. Aus dem Motorraum des Wagens drang ein metallisches Knistern. »Na ja«, sagte einer der Männer traurig und wischte mit seiner Hand über das Blech. »Es wird halt Zeit.« Der Verhärmte sah ihn böse an, und der Mann verstummte. Hinter ihnen holperte eine Frau auf einem klobigen Fahrrad übers Pflaster und pfiff bei jedem Pedaltritt leise zwischen den Zähnen hervor. Auf der anderen Straßenseite ging ein Fenster auf, eine Hand mit einer Schere erschien und schnitt einer Geranie ihren Blütenkopf ab. Er plumpste auf das Fensterbrett und fiel von dort auf den Gehsteig hinunter, wo er leuchtend liegen blieb. Der Verhärmte seufzte, ließ seine Zigarillo auf den Boden fallen und trat sie aus. »Dass die Tage jetzt schon in aller Herrgottsfrühe so lang sein müssen«, sagte er mit einem müden Kopfschütteln: »Darf ich bitten?«
    »Einen Augenblick noch«, bat Franz. Er beugte sich ein bisschen näher an den Zettel heran und klebte konzentriert einen weiteren Streifen darüber.
    »Das hat doch keinen Sinn mehr, Burschi!«, sagte der Verhärmte.
    »Was Sinn hat und was nicht, wird sich erst herausstellen«, sagte Franz. »Außerdem heiße ich Franz. Franz Huchel aus Nußdorf am See!«
    »Meinetwegen kannst du auch der Franz aus den Tiroler Bergen sein«, sagte der Verhärmte freundlich, »oder der Hans aus Unterfladnitz oder sonst irgendjemand von sonst irgendwoher. Wir machen da keine Unterschiede. Im Hotel Metropol sind alle Gäste gleich. Also gehen wir jetzt, oder muss ich erst grantig werden?«
    Franz riss zwei letzte Streifen von der Rolle und zog sie quer über den ganzen Zettel. Er legte seine flache Hand darauf und schloss die Augen. Der Zettel fühlte sich warm an, und es war, als ob die Scheibe darunter atmete, ein kaum merkliches Heben und Senken unter der Handfläche. Als er die Augen wieder öffnete, sah er, dass seine Finger zitterten.
    »Ich muss noch zusperren«, sagte er. »Weil wer weiß schon, was sein wird.« Er schloss die Tür und drehte den Schlüssel dreimal um. Als er zwischen den Männern zum Wagen ging, glaubte er hinter sich immer noch das leise Klingeln der Glöckchen zu hören. Aber das ist ja Blödsinn, dachte er und stieg ein.
    Fast sechs Jahre später, am Morgen des 12. März 1945, lag eine merkwürdige Stille über der Stadt. Die Nacht hatte sich verzogen wie Rauch und war einem trüben Dämmerlicht gewichen. Im Radio hatte man Gewitter angesagt und der Wind wirbelte den Staub in den Straßen auf und trieb einzelne Zeitungsblätter vor sich her. Seit einigen Tagen waren wieder Gerüchte über neuerliche Bombenangriffe zu hören, alle sprachen darüber, doch niemand wusste Genaueres. Wer nicht unbedingt auf die Straße musste, blieb zuhause oder verbrachte seine Zeit in Bunkern und Kellern. Nachts schimmerte es da und dort hinter Kellerfenstern in den unbeleuchteten Straßen, und wenn man sich bückte und durch die trüben Scheiben blickte, sah man die flackernden Gesichter von Menschen, die um ein paar Kerzen saßen und schweigend Karten spielten. Die Währingerstraße war fast menschenleer. Auf einer Bank saß eine alte Dame und streute Semmelbrösel zwischen die Tauben, die aufgeregt vor ihren Füßen herumtrippelten. Die Tauben waren die einzigen Vögel, die noch zu sehen waren in den Parks und auf den Straßen. Seit dem letzten Herbst waren alle anderen verschwunden. Eines frühen Morgens hatten sie sich wie auf einen geheimen Aufruf zu großen Schwärmen zusammengefunden und die Stadt in Richtung Westen verlassen. Die alte Dame stieß einen Schreckenslaut aus, als ihr eins der Tiere fast in den Schoß flatterte. Sie ließ das Säckchen mit den restlichen Bröseln in ihrer Manteltasche verschwinden, rappelte sich auf und humpelte leise schimpfend in den nächsten Hauseingang. Vom Gürtel her näherte sich mit schnellen Schritten eine junge Frau. Sie hatte den Kopf gesenkt und die Hände tief vergraben in den Taschen einer viel zu großen Männerjacke, die ihr wie ein Sack von den Schultern hing und bis über die Knie reichte. Als sie ihren Mund öffnete, um mit einem Zischen die Tauben zu verscheuchen, die sich um die letzten Futterreste stritten, waren für einen Augenblick ihre
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