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Der Tod wird euch finden - Al-Qaida und der Weg zum 11 September Ausgezeichnet mit dem Pulitzer Prize 2007

Titel: Der Tod wird euch finden - Al-Qaida und der Weg zum 11 September Ausgezeichnet mit dem Pulitzer Prize 2007
Autoren: Lawrence Wright
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Telefonanrufe zu erwidern.
    Coleman muss sich alleine mit all den Fragen beschäftigen, die sich später alle stellen werden. Wo ist diese Bewegung entstanden? Warum will sie Amerika zerstören? Und was kann man tun, um sie aufzuhalten? Er kommt sich vor wie ein Labortechniker, der ein bislang unbekanntes Virus untersucht. Unter dem Mikroskop werden al-Qaidas todbringende Eigenschaften deutlich sichtbar. Die Gruppe ist klein - zu der Zeit gerade mal 93 Mitglieder -, doch sie gehört zu einer größeren radikalen Bewegung, die den Islam vor allem in der arabischen Welt erfasst hat. Es besteht die große Gefahr, dass sie sich immer weiter ausbreitet. Die Männer, die diese Gruppe gegründet haben, sind gut ausgebildet und kampferprobt. Sie verfügen anscheinend über beträchtliche finanzielle Mittel. Zudem sind sie ihrer Sache fanatisch ergeben und davon überzeugt, dass sie siegen werden. Sie werden von einer Philosophie geleitet, die sie so stark in den Bann geschlagen hat, dass sie aus freien Stücken, ja sogar mit Begeisterung ihr Leben dafür zu opfern bereit sind. Doch bis dahin wollen sie so viele Menschen wie möglich in den Tod schicken.
    Am erschreckendsten an dieser neuen Bedrohung ist jedoch die Tatsache, dass niemand sie ernst nimmt. Sie erscheint als zu grotesk, zu primitiv und zu exotisch. Aufgrund der Zuversicht der Amerikaner, dass die Moderne, die Technologie und ihre Ideale sie vor den zügellosen Barbaren schützen werden, wirken die herausfordernden Gesten Osama Bin Ladens und seiner Mitstreiter absurd, gar lächerlich. Doch al-Qaida ist mehr als ein Überbleibsel aus dem Arabien des 7. Jahrhunderts. Die Gruppe hat gelernt, sich moderner Instrumente und moderner Ideen zu bedienen, was nicht überrascht, denn die Geschichte al-Qaidas begann in Amerika, und zwar vor nicht allzu langer Zeit.

1 DER MÄRTYRER
    In einer Kabine der ersten Klasse auf einem Kreuzfahrtschiff, das vom ägyptischen Alexandria nach New York unterwegs war, durchlebte der Autor und Lehrer Sajid Qutb 1 , ein schmächtiger Mann in mittleren Jahren, eine Glaubenskrise. „Soll ich nach Amerika reisen wie ein normaler Student mit einem Stipendium, der sich nur für Essen und Schlafen interessiert, oder soll ich etwas Besonderes sein?“, überlegte er. „Soll ich an meinem islamischen Glauben festhalten angesichts der mannigfaltigen Versuchungen der Sünde oder soll ich all diesen Verlockungen erliegen, die mich umgeben?“ 2 Das war im November 1948. Die neue Welt erhob sich am Horizont, sieghaft, reich und frei. Hinter ihm lag Ägypten, versunken im Elend und in Tränen. Der Reisende hatte sein Heimatland zuvor noch nie verlassen. Und er war auch jetzt nicht freiwillig gegangen.
    Der nachdenkliche Junggeselle war ein schlanker, dunkelhaariger Mann, hatte eine fliehende Stirn und einen Schnurrbart schmal wie ein Pinselstrich. In seinen Augen lag etwas Herrisches und leicht Verschlagenes. Er wirkte stets sehr förmlich und bevorzugte trotz der heißen ägyptischen Sonne dreiteilige dunkle Anzüge. Für einen Mann, der so viel auf sich hielt, musste die Aussicht, mit 42 Jahren wieder die Schulbank zu drücken, demütigend sein. Andererseits hatte er das bescheidene Ziel, dass er sich einst als Junge in dem kleinen, aus Lehmhütten bestehenden Dorf in Oberägypten gesetzt hatte, nämlich ein geachteter Angestellter des öffentlichen Dienstes zu werden, längst übertroffen. Durch seine literaturkritischen und politischen Texte war er einer der bekanntesten Autoren des Landes geworden. Dies hatte ihm auch den Zorn von König Faruk I. eingetragen, des prunksüchtigen ägyptischen Herrschers, der seine Verhaftung angeordnet hatte. Einflussreiche Freunde hatten dafür gesorgt, dass er das Land verlassen konnte. 3
    Zu dieser Zeit hatte Qutb („kuh-tub“ausgesprochen) einen guten Posten im Bildungsministerium inne. Er war ein glühender Nationalist und Antikommunist und vertrat damit dieselben politischen Ansichten wie der Großteil der Beamtenschaft.
    Die Ideen, aus denen schließlich der islamische Fundamentalismus hervorgehen sollte, waren in seinem Geist noch nicht vollständig ausgereift; er erklärte später sogar, er sei bis zu seiner Reise gar kein sonderlich religiöser Mensch gewesen 4 , obwohl er schon im Alter von zehn Jahren den Koran auswendig kannte 5 und er in seinen Schriften zuletzt konservativere Töne angeschlagen hatte. Wie viele seiner Landsleute war Qutb durch die britische Besatzung radikalisiert worden und
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