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Der Steppenwolf

Der Steppenwolf

Titel: Der Steppenwolf
Autoren: Hermann Hesse
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habe, daß ihr diese Begegnung dasselbe bedeute wie mir. Und statt wieder den Hut zu ziehen und feierlich mit gezogenem Hut zu stehen, bis sie vorüber wäre, tat ich diesmal trotz Angst und Beklemmung, was mein Blut mich tun hieß, und rief: «Rosa! Gott sei Dank, daß du gekommen bist, du schönes schönes Mädchen. Ich habe dich so lieb.» Das war vielleicht nicht das Geistreichste, was sich in diesem Augenblick sagen ließ, allein es bedurfte hier keines Geistes, es genügte vollkommen. Rosa machte kein Damengesicht und ging nicht weiter, Rosa blieb stehen, sah mich an und wurde noch röter als vorher und sagte: «Grüß Gott, Harry, hast du mich denn wirklich gern?» Dazu strahlten ihre braunen Augen aus dem kräftigen Gesicht, und ich spürte: mein ganzes vergangenes Leben und Lieben war falsch und verworren und voll dummen Unglücks gewesen von dem Augenblick an, wo ich Rosa an jenem Sonntag hatte davonlaufen lassen. Jetzt aber war der Fehler gutgemacht, und es wurde alles anders, wurde alles gut.
    Wir gaben einander die Hände, und Hand in Hand gingen wir langsam weiter, unsäglich glücklich, sehr verlegen, wußten nicht, was sagen und was tun, begannen aus Verlegenheit schneller zu laufen und trabten, bis wir den Atem 174
    verloren und stehenbleiben mußten, ohne aber unsre Hände loszulassen. Wir waren beide noch in der Kindheit und wußten nicht recht was miteinander anzufangen, wir kamen an jenem Sonntag nicht einmal bis zu einem ersten Kuß, aber wir waren ungeheuer glücklich. Wir standen und atmeten, wir setzten uns ins Gras, und ich streichelte ihre Hand, und sie fuhr mir mit der ändern Hand schüchtern übers Haar, und dann standen wir wieder auf und probierten zu messen, wer von uns größer sei, und eigentlich war ich um einen Fingerbreit größer, aber ich gab es nicht zu, sondern stellte fest, daß wir ganz genau gleich groß seien, und daß der liebe Gott uns füreinander bestimmt habe, und daß wir uns später heiraten würden. Da sagte Rosa, sie rieche Veilchen, und wir knieten im kurzen Frühlingsgras und suchten und fanden ein paar Veilchen mit kurzen Stielchen, und jedes schenkte die seinen dem ändern, und als es kühler wurde und das Licht schon schräg über die Felsen fiel, sagte Rosa, sie müsse heim, und da wurden wir beide sehr traurig, denn begleiten durfte ich sie nicht, aber nun hatten wir ein Geheimnis miteinander, und das war das Holdeste, was wir besaßen. Ich blieb oben in den Felsen, roch an Rosas Veilchen, legte mich über einem Absturz an den Boden, das Gesicht über der Tiefe, und schaute hinab auf die Stadt und lauerte, bis ihre süße kleine Gestalt tief unten erschien und am Brunnen vorbei und über die Brücke lief. Und jetzt wußte ich sie in ihres Vaters Haus angekommen, und dort ging sie durch die Stuben, und ich lag hier oben weit von ihr, aber von mir zu ihr lief ein Band, lief ein Strom, wehte ein Geheimnis.
    Wir sahen uns wieder, hier und dort, auf den Felsen, bei den Gartenzäunen, diesen ganzen Frühling lang, und gaben uns, als der Flieder anfing zu blühen, den ersten ängstlichen Kuß. Wenig war es, was wir Kinder einander geben konnten, und unser Kuß war noch ohne Glut und ohne Fülle, und das lose Haargekräusel um ihre Ohren wagte ich nur leise zu streicheln, aber alles war unser, wessen wir an Liebe und Freude fähig waren, und mit jeder schüchternen Berührung, mit jedem unreifen Liebeswort, mit jedem bangen Aufeinanderwarten lernten wir ein neues Glück, stiegen wir eine kleine Stufe an der Liebesleiter empor.
    So lebte ich, mit Rosa und den Veilchen beginnend, mein ganzes Liebesleben 175
    noch einmal durch, unter glücklicheren Sternen. Rosa verlor sich, und Irmgard erschien, und die Sonne wurde heißer, die Sterne trunkener, aber nicht Rosa noch Irmgard wurde mein, Stufe um Stufe mußte ich steigen, viel erleben, viel lernen, mu ßte auch Irmgard, auch Anna wieder verlieren. Jedes Mädchen, das ich einst in meiner Jugend geliebt, liebte ich wieder, aber jedem vermochte ich Liebe einzuflößen, jeder etwas zu geben, von jeder beschenkt zu werden.
    Wünsche, Träume und Möglichkeiten, die einst einzig in meiner Phantasie gelebt hatten, waren jetzt Wirklichkeit und wurden gelebt. 0 ihr schönen Blumen alle, Ida und Lore, ihr alle, die ich einst einen Sommer lang, einen Monat lang, einen Tag lang geliebt habe!
    Ich begriff, daß ich jetzt der hübsche glühende kleine Jüngling war, den ich zuvor so eifrig nach der Liebespforte hatte laufen sehen,
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