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Der Schimmelreiter

Der Schimmelreiter

Titel: Der Schimmelreiter
Autoren: Theodor Storm
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der Sterbenden grub eben der Tod das hippokratische Gesicht, und das Kind starrte atemlos auf die unheimliche, ihr unverständliche Verwandlung des unschönen, aber ihr vertrauten Angesichts.
    »Was macht sie? Was ist das, Vater?« flüsterte sie angstvoll und grub die Fingernägel in ihres Vaters Hand.
    »Sie stirbt!« sagte der Deichgraf.
    »Stirbt!« wiederholte das Kind und schien in verworrenes Sinnen zu verfallen.
    Aber die Alte rührte noch einmal ihre Lippen: »Jins! Jins!« Und kreischend, wie ein Notschrei, brach es hervor, und ihre knöchernen Arme streckten sich gegen die draußen flimmernde Meeresspiegelung. »Hölp mi! Hölp mi! Du bist ja bawen Water... Gott gnad de annern!«
    Ihre Arme sanken, ein leises Krachen der Bettstatt wurde hörbar; sie hatte aufgehört zu leben.
    Das Kind tat einen tiefen Seufzer und warf die blassen Augen zu ihrem Vater auf »Stirbt sie noch immer?« frug es.
    »Sie hat es vollbracht!« sagte der Deichgraf und nahm das Kind auf seinen Arm. »Sie ist nun weit von uns, beim lieben Gott.«
    »Beim lieben Gott!« wiederholte das Kind und schwieg eine Weile, als müsse es den Worten nachsinnen. »Ist das gut, beim lieben Gott?«
    »Ja, das ist das Beste.« – In Haukes Innerm aber klang schwer die letzte Rede der Sterbenden. ›Gott gnad de annern!‹ sprach es leise in ihm. ›Was wollte die alte Hexe? Sind denn die Sterbenden Propheten – –?‹
    – – Bald nachdem Trin' Jans oben bei der Kirche eingegraben war, begann man immer lauter von allerlei Unheil und seltsamem Geschmeiß zu reden, das die Menschen in Nordfriesland erschreckt haben sollte; und sicher war es: am Sonntage Lätare war droben von der Turmspitze der goldne Hahn durch einen Wirbelwind herabgeworfen worden; auch das war richtig: im Hochsommer fiel, wie ein Schnee, ein groß Geschmeiß vom Himmel, daß man die Augen davor nicht auftun konnte und es hernach fast handhoch auf den Fennen lag, und hatte niemand je so was gesehen. Als aber nach Ende September der Großknecht mit Korn und die Magd Ann Grete mit Butter in die Stadt zu Markt gefahren waren, kletterten sie bei ihrer Rückkunft mit schreckensbleichen Gesichtern von ihrem Wagen. »Was ist? Was habt ihr?« riefen die andern Dirnen, die hinausgelaufen waren, da sie den Wagen rollen hörten.
    Ann Grete in ihrem Reiseanzug trat atemlos in die geräumige Küche. »Nun, so erzähl doch!« riefen die Dirnen wieder, »wo ist das Unglück los?«
    »Ach, unser lieber Jesus wolle uns behüten!« rief Ann Grete. »Ihr wißt, von drüben, überm Wasser, das alt Mariken vom Ziegelhof, wir stehen mit unserer Butter ja allzeit zusammen an der Apothekerecke, die hat es mir erzählt, und Iven Johns sagte auch, ›das gibt ein Unglück!‹ sagte er; ›ein Unglück über ganz Nordfriesland; glaub mir's, Ann Gret!‹ Und« – sie dämpfte ihre Stimme – »mit des Deichgrafs Schimmel ist's am Ende auch nicht richtig!«
    »Scht! scht!« machten die andern Dirnen.
    – »Ja, ja; was kümmert's mich! Aber drüben, an der andern Seite, geht's noch schlimmer als bei uns! Nicht bloß Fliegen und Geschmeiß, auch Blut ist wie Regen vom Himmel gefallen; und da am Sonntagmorgen danach der Pastor sein Waschbecken vorgenommen hat, sind fünf Totenköpfe, wie Erbsen groß, darin gewesen, und alle sind gekommen, um das zu sehen; im Monat Augusti sind grausige rotköpfige Raupenwürmer über das Land gezogen und haben Korn und Mehl und Brote, was sie fanden, weggefressen, und hat kein Feuer sie vertilgen können!«
    Die Erzählerin verstummte plötzlich; keine der Mägde hatte bemerkt, daß die Hausfrau in die Küche getreten war. »Was redet ihr da?« sprach diese. »Laßt das den Wirt nicht hören!« Und da sie alle jetzt erzählen wollten: »Es tut nicht not; ich habe genug davon vernommen; geht an euere Arbeit, das bringt euch besseren Segen!« Dann nahm sie Ann Gret mit sich in die Stube und hielt mit dieser Abrechnung über ihre Marktgeschäfte.
    So fand im Hause des Deichgrafen das abergläubische Geschwätz bei der Herrschaft keinen Anhalt; aber in die übrigen Häuser, und je länger die Abende wurden, um desto leichter, drang es mehr und mehr hinein. Wie schwere Luft lag es auf allen, und heimlich sagte man es sich, ein Unheil, ein schweres, würde über Nordfriesland kommen.
    Es war vor Allerheiligen, im Oktober. Tagüber hatte es stark aus Südwest gestürmt; abends stand ein halber Mond am Himmel, dunkelbraune Wolken jagten überhin, und Schatten und trübes Licht
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