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Der Omega-Punkt: Roman (German Edition)

Der Omega-Punkt: Roman (German Edition)

Titel: Der Omega-Punkt: Roman (German Edition)
Autoren: Don DeLillo
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schicke Ledersandalen an den großen plumpen Füßen.
    »Also eins kann ich Ihnen sagen. Der Krieg schafft eine abgeschlossene Welt, und zwar nicht nur für die Kämpfenden, sondern auch für die Anstifter, die Strategen. Nur dass ihr Krieg aus Akronymen besteht, aus Projektionen, Unwägbarkeiten, Methodologien.«
    Er sang die Worte mit liturgischer Intonation.
    »Die Systeme, die ihnen zur Verfügung stehen, lähmen sie. Ihr Krieg ist abstrakt. Sie glauben, sie würden eine Armee an einen Ort auf der Landkarte schicken.«
    Er sei keiner der Strategen gewesen, sagte er unnötigerweise. Ich wusste, was er gewesen war oder hatte sein sollen, ein Denker der Verteidigung, ohne den üblichen Lebenslauf, und als ich den Begriff benutzte, verspannten sich seine Kiefermuskeln vor lauter stolzer Sehnsucht nach den frühen Wochen und Monaten, bevor ihm dämmerte, dass er einen leeren Posten besetzte.
    »Es gab eine Zeit, da existierte keine Landkarte von der Wirklichkeit, die wir erschaffen wollten.«
    »Was für eine Wirklichkeit?«
    »Wir tun es mit jedem Blinzeln. Die menschliche Wahrnehmung ist die endlose Geschichte von erschaffener Wirklichkeit. Wir aber entwarfen Konstruktionen jenseits der vereinbarten Grenzen von Wiedererkennbarkeit oder Interpretation. Es braucht Lügen. Der Staat muss lügen. Es gibt keine Lüge im Krieg oder in der Kriegsvorbereitung, die sich nicht verteidigen ließe. Wir gingen weit darüber hinaus. Wir versuchten, über Nacht neue Wirklichkeiten zu erschaffen, sorgfältige Wortgebilde, die in Einprägsamkeit und Wiederholbarkeit Werbeslogans ähnelten. Worte, die irgendwann Bilder erzeugen und dann dreidimensional werden würden. Die Wirklichkeit steht, geht, sitzt. Außer wenn sie es nicht tut.«
    Er rauchte nicht, aber seine Stimme hatte eine sandige Textur, vielleicht war sie nur vom Alter kratzig, manchmal rutschte sie nach innen weg und wurde fast unhörbar. Wir saßen ziemlich lange zusammen. Er hockte zusammengesackt mitten auf dem Sofa, den Blick auf irgendeinen Punkt in einer hohen Ecke des Raums geheftet. Er trank Scotch mit Wasser aus einem Kaffeebecher, den er vor seinem Bauch festhielt.
    Schließlich sagte er: »Haiku.«
    Ich nickte nachdenklich, idiotisch, eine langsame Folge von Bewegungen, um anzuzeigen, dass ich voll und ganz verstand.
    »Ein Haiku bedeutet nichts als das, was es ist. Ein Teich im Sommer, ein Blatt im Wind. Das menschliche Bewusstsein, in der Natur verortet. Es ist die Antwort auf alles, in drei vorgegebenen Zeilen mit vorgeschriebener Silbenzahl. Ich wollte einen Haiku-Krieg«, sagte er. »Ich wollte einen Krieg in drei Zeilen. Das hing nicht von der Truppenstärke oder der Logistik ab. Ich wollte einen Satz Gedanken, geknüpft an flüchtige Dinge. Das ist die Seele des Haikus. Entblöße alles bis zur Offenkundigkeit. Erkenne, was da ist. Im Krieg sind die Dinge flüchtig. Erkenne, was da ist, und sei bereit, es verschwinden zu sehen.«
    »Sie haben dieses Wort gebraucht. Haiku«, sagte ich.
    »Ich habe dieses Wort gebraucht. Dazu war ich da, ihnen Wörter und Bedeutungen an die Hand zu geben. Wörter, die sie noch nicht gebraucht hatten, neue Denk- und Sichtweisen. In der einen oder anderen Diskussion habe ich vermutlich dieses Wort gebraucht. Es hat sie nicht vom Stuhl gerissen.«
    Ich wusste nichts über die Männer, die es nicht vom Stuhl gerissen hatte. Aber langsam lernte ich Elster kennen und wunderte mich über die Taktik, auch wenn sie am Ende nichts bewirkt hatte. Ich interessierte mich nicht für den Eindruck, den er auf andere machte, nur dafür, wie er diese Erfahrung empfunden hatte. Sollte er ruhig im Irrtum sein, brüsk, wütend, müde. Zeilen und Silben. Altmännerfußmief / Launischer Sommerabend. Und so weiter.
    »Sie wollten einen Krieg. Nur einen besseren«, sagte ich.
    »Ich will immer noch einen Krieg. Eine Großmacht muss handeln. Wir wurden schwer getroffen. Wir müssen uns die Zukunft zurückholen. Die Willenskraft, das pure instinktive Bedürfnis. Wir können nicht Andere unsere Welt und unser Denken gestalten lassen. Die haben nur alte, tote, despotische Traditionen. Wir haben eine lebendige Geschichte, und ich glaubte, ich wäre mittendrin. Aber in jenen Räumen mit jenen Männern ging es nur um Prioritäten, Statistiken, Evaluationen, Rationalisierungen.«
    Keine liturgische Düsternis mehr in seiner Stimme. Er war müde und distanziert, zu weit von den Ereignissen entfernt, um seinem Groll gerecht werden zu können. Ich achtete
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